Sbornik FF BU
SBORNÍK PRACÍ FILOZOFICKÉ FAKULTY BRNÌNSKÉ UNIVERZITY
STUDIA MINORA FACULTATIS PHILOSOPHICAE UNIVERSITATIS BRUNENSIS
B 42, 1995
Petr Horák
John Locke und die Toleranz*1
Als ich diese Vorlesung überhaupt meinen alten Freund, Kollegen
Steffen Dietzsch vorgeschlagen habe, handelte ich unter dem Einfluß
einer sehr einfachen Idee und zwar daß es vieleicht vom Interesse
wäre, Ihnen, meine sehr geehrte Kolleginen und Kollegen über
meine Arbeit an einer tschechischen Übersetzung und Ausgabe des
bekannten Lockeschen ersten Briefes über die Toleranz etwas zu
berichten. Ich dachte - und ich bitte Sie, meine Damen und Herren
um Entschuldigung - daß so ein Bericht vieleicht für die erste
Anknüpfung der Kontakten zwischen dem Philosophischen Institut
der FernUniversität Hagen und dem Philosophischen Institut der
Philosophischen Fakultät der Brünner Masaryk's Universität als
nicht ganz ungeignetes, im Gegenteil vieleicht sogar als ziemlich
interessantes Beispiel einer philosophischen Arbeit gelten könnte.
Und ich muß auch ganz offen gestehen, daß ich die Anregung eines
Pragers Velagshauses folgend, eine solche Ausgabe im Auftrag
genomen habe.
Als ich aber doch ein bischen mehr über meinen heutigen Vortrag
überlegen habe, viel mir schwer diese meine heutige Aufgabe so
eng zu beschrenken. Wenn ich auch sehr gut die Tatsache einsehe,
daß diese, in den Rahmen des normalwissenschaftlichen Betriebs
sich gut passende Aufgabe vieleicht nur für mich als ausserordentlich
interessant und wichtig erscheint, was natürlich eine Meinung
ist, die nicht von allen Zuhörer geteilt sein muß, dringen sich,
verknüpft mit der Name Locke's und mit dem Konzept der Toleranz
- ganz abgesehen davon, daß wir dieses Jahr von der UNO für
das Jahr der Toleranz erklärt wurde - doch noch einige andere
Ideen, als nur solche, die mit einer tschechischen Herausgabe
des Lockeschen Toleranz Briefes notwendigerweise verknüpft sind.
So habe ich mich doch entschlossen - allen Schwierigkeiten die
mir die deutsche Sprache auflegt zum trotz - die ursprünglich
engen Grenzen meines heutigen Vortrages leicht erweitern. Ich
werde also erstens nur sehr kurz über meine Editionsaufgabe bettrefends
Lockschen Briefen über die Toleranz sprechen, dann - also zweitens,
ausgehend vom dem Inhalt Lockschen Toleranzbriefes von der Toleranz
in historischphilosophischen Hinblick sprechen. Im dritten Teil
meines Vortrags werde ich mich zum Gabriel Marcel's Einsichten
über die Toleranz wenden, um in dem vierten und letzten Teil
meines heutigen Vortrages mir einige Betrachtungen über den heutigen
Stand in der Toleranzfrage zu erlauben, und zwar an der Hand
zweier Veröffentlichungen aus der letzten Zeit: ich meine hier
eine Publikation der UNESCO aus dem Jahre 1993 und einen Sammelband
zur Frage der Toleranz, der im diesen Jahr in Prag erschien.
Beide diese Teile meines Vortrages werden natürlich die Frage
der Toleranz im Hinblick auf die Locksche Behandlung dieses Problems
betrachten.
1) Zu dem ersten Punkt also nur ganz kurz: ich wurde durch ein
Prager Verlagshaus beauftragt für seine Editionsreihe die im
allgemeinen den geistewissenschaftlichen Themen gewidmet ist
und durch die schwarze Umschläge der Bände dieser Reihe als sogennante
ßchwarze Ausgabenreihe" ziemlich berühmt und beliebt ist, eine
Ausgabe der zwei ersten Lockschen Briefen über die Toleranz zu
vorbereiten, natürlich mit dem Schwerpunkt betreffend des ersten
Briefes, der zweite soll nur als Beweiß, oder als ein Beispiel
der zeitgenösischen Polemik dienen: mehr Interesse dem zweiten
Brief von Locke lohnt sich eigentlich nicht. Ganz allgemein gesagt,
es handelt sich um die Briefe die eigentlich John Locke in seinen
reifen Jahren redigiert hatte und die noch von zwei weiteren
gefolgt wurden. Der grösste Interesse hatte sich, wie ich es
soeben angedeutet, von Anfang an dem ersten von allen diesen
Briefen zugewandt. Dieser erste Brief entstand - das alles ist
natürlich sehr gut bekannt, so erlaube ich mich hier nur ganz
flüchtig darüber zu sprechen - als John Locke in Holland im politischen
Exil residierte. Locke schrieb diesen seinen ersten Brief über
die Toleranzfrage im Latein, unter dem Titel Epistola de Tolerantia,
und zwar in Amsterdam, im Winter des Jahres 1685-86. Diese ursprüngliche
lateinische Version wurde in Frühling 1689 veröffentlicht, seine
englische Version folgte dann im Herbst desselben Jahres. Nun
- und das ist auch sehr gut bekannt, daß der Toleranzbrief John
Locke's sehr rasch eine Art von Menschenrechtsdeklaration für
das folgendes 18. Jahrhundert geworden ist - ich stütze mich
hier auf die Bewertung eines sehr guter Kenners John Locke's,
auf die Bewertung von Professoren Raymond Polin2 - was hat sich natürlich
in vielen Ausgaben und Übersetzungen nachgeschlagt. Die erste
holländische Übersetzung kam schon im Jahre 1689, wenige Monate
nach dem lateinischen Original3 zu stande, dann sollte eine französische Übersetzung
folgen noch vor der ersten englischen Übersetzung, die übrigens
nicht vom Locke selbst verfasst wurde und danach kammen zur Erscheinung
selbstverständlich viele andere... Die erste englische Ausgabe
war von einem Freunde Locke's, William Popple, sehr rasch und
schnell gefertigt. Die Popple's erste englische Ausgabe aus dem
Jahre 1689 diente dannach für die ganze Reihe von anderen britischen
und amerikanischen Ausgaben bis fast in die letzte Zeit. John
Locke selbst gewissermassen in seinem Testament aus dem Jahre
1704 diese erste ennglische Ausgabe autorisierte, als er sich
in diesen seinem Testament als Autor der Toleranzbriefen deklarierte,
aber doch von dem ersten behauptete, daß dieser sein Brief ins
englische ohne seine Mitarbeit übersetzt wurde4. Es gibt heuzutage Ausgaben, mindestens
des ersten Briefes, die der lateinischen Originalversion besser
entsprechen, als die erste englische, also von William Popple
stammende Übersetzung und Ausgabe: ich meine hier zum Beispiel
eine französische Ausgabe, die im Jahre 1964 Professor Raymond
Polin zustande gebracht hatte und eine englische aus dem Jahre
1968, die von James W. Gough gefertigt wurde. Beide diese Ausgaben
wurden von Professoren Raymond Klibansky kritisch vorbereitet
und eingeleitet5. Ich verwende für meinen heutigen
Vortrag, wie für meine bevorstehende Übersetzung ins tschechische
Sprache, diese beide moderne, kritische Ausgabe des ersten Toleranzbriefes
John Locke's für den zweiten Brief über die Toleranz von John
Locke muß ich mit einer ziemlichen alten Gesammtausgabe der Werke
John Locke's begnügen, mit einer Ausgabe die ursprünglich aus
dem Jahre 1823 stammt und die in der Form eines Reprints von
dem Scientia Verlag Aalen 1963 erneut in dem Buchhandel erschien6.
Zu dieser so zu sagen technischen Seite meines Vorhabens, muß
ich noch einiges zufügen: meine Übersetzung der beiden ersten
Briefen über die Toleranz von John Locke wird mit aller wahscheinlichkeit
die erste tschechische Übersetzung überhaupt sein. Es is eigentlich
sehr verblüffend, daß trotz vielen Übersetzungen und Ausgaben
anderer Werke von John Locke, keine, mindestens nicht keine,
mir bekannte, moderne tschechische Ausgabe des so bekannten und
einflussreichen Briefes über die Toleranz bis heute zustande
gekommen ist. Man möchte sich gleich in diesem Zusammenhang die
Frage stellen, wie konnten meine tschechische Landsleuten ihre
eigene Geschichte des Kampfes um die Religion und Meinungstoleranz
ohne diesen Brief gut zu kennen auskommen? Ich lasse aber diese
mehr spötisch als ironisch gemeinte Frage beiseite, um an diese
Stelle noch etwas anderes hinzufügen: die Idee den ersten und
den zweiten Brief über die Toleranz von John Locke ins tschechische
zu übersetzen und heraugeben, fasste ich gemeinsam mit meinen
Freund Dr. Bøetislav Danìk von dem Prager Vyšehrad Verlagshaus,
noch lange Zeit vor die große politische Wende des Jahres 1989.
Wir warten auf eine, unserem Vorhaben günstigere Gelegenheit,
sie ist gekommen, und ich hoffe im allen Ernst dieses Vorhaben
bald erfüllen zu können.
2) Wenden wir uns dem Inhalte des ersten Toleranzbriefes von
John Locke. Sein Autor hat ihm, wie schon ewähnt, im Jahre 1689
verfasst. Ich möchte hier nur eine kurze Zusammenfassung der
wichtigsten Punkten/Argumenten wagen :
- 1. Locke geht von dem Unterschied des politischen und religiösen
aus. Man muß ganz klar und radikal die Trennung der Sphären der
politischen Gemeinschaft und der religiösen Gesellschaft, das
heißt des Staates an der eine und der Kirche an der anderen Seite
unternehmen. Die Funktion des Staates lieg in der Obligation
dem Bürger das alles was sich aus dem Naturrecht ergibt, ermöglichen.
Das bedeutet, daß die öffentliche Macht, also der Staat, dem
Bürger ein Leben im Einklang mit diesem Naturrecht garantieren
zu verpflichtet ist, daß zu diesem Zwecke die zivile Gemeinschaft
überhaupt einen Staat zu bilden durch den, von Locke fast gleich
dem göttlichen Gebote gleichen Gebots des Naturrecht aufgefordert
wird, einen Staat also, dessen hauptsächliste und oberste Pflicht
ist die Wahrung und Erhaltung des Lebens, der Gesundheit, der
Freiheit und des Vermögens der einzelnen Bürger. Zu diesem Zweck
bildet sich der Staat aus, als ein äußeres Gebilde einer bürgerlichen
Gesellschaft, die seinen Mitgliedern ein gemeinschaftliches Leben
in der Sicherheit, im Frieden und in der Prosperität ermöglicht7. Um
das zu sichern, verfügt der Staat über gewisse Mittel, die den
Frieden und die Freiheit allen Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft
garantieren.
Auf der anderen Seite steht die Kirche. Sie ist in den Augen
Locke's als eine freie, freiwillige, also als allen den Bürgern,
die sich in dieser Kirche eintretten wünschen, zugängliche, daß
heißt "öffentliche" Gesellschaft anzusehen. Locke, wie wir sehen,
sei mir diese flüchtige Bemerkung erlaubt, lasst sich nicht irren
und fasst nicht den später, Dank der sozialwissenschaftlichen
Theorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts so berühmt gewordenen
Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, im Sinne
eines Resultats des Zivilisations und modernisierungs Prozesses.
In Gegenteil: diese Trennung ist als eine ursprüngliche anzusehen,
die staatliche Gemeinschaft ist eine als eine notwendige, nicht
nur als eine vieleicht nur zufällige oder nur mögliche Folge
der Trennug der Menschheit von dem Naturstand einzusehen. Diese
Folge gilt für John Locke als eine ganz selbstverständliche,
da sie aus dem Naturrecht erfolgt. Die Errichtung einer kirchlichen
Gesellschaft dagegen mag vieleicht als eine gute und nützliche
Einrichtung gelten, sie ist aber gewissermassen nicht als eine
notwendige Einrichtung einzusehen. Sie ist nur, wie es Locke
ausdrückt, eine societas spontanea8. Als
solche, sie ist keineswegs notwendig; seine eventuelle Errichtung
entspricht darum keineswegs - wie im Falle der Errichtung eines
Staates - einer Obligation gegenüber dem Naturrecht. Zu der
Entstehung einer solcher kirchlicher Gesellschaft kommt aus sie
selber, also in der Folge einer freiwilligeren Zustimmung aller
denen, die sich in und zu einer solcher Gesellschaft versammlt
haben, um zusammen in klarer Offenheit in dem Geiste der Zustimmung
beten zu können und so ihrer Glaube einen Ausdruck zu geben,
da sich alle Mitglieder einer solcher kirchlichen Gesellschaft
als ernsthaft überzeugt füllen, sich mit diesem Tun die ewige
Erlösung sichern. Um das alles zu erreichen, müssen die Gläubigen
als erste Vorrausetzung gegenseiteige Toleranz9 praktisch ausüben und die Kirche, die sie in solcher
Weise gegründet haben, muß sich ausschliesslich auf das Seelenleben
der Gläubigen konzentrien. Aus diesem Postulat erfolgt für John
Locke, daß die Kirche keinen Anspruch erheben darf, mit der Angelegenheiten
dieser Welt sich beschäftigen, also sich um die bürgerliche Angelegenheiten
zu kümmern. Aus allen dem erfolgt für John Locke ein weiteres,
ebenso klar formuliertes Postulat: keine kirchliche Gesellschaft
hat durchaus keinen Recht die Gewalt, wegen irgendwelchen bürgerlichen
Angelegenheiten anwenden oder anwenden zu wollen, da die Ausübung
der Gewalt ausschliesslich eine Sache der Regierung, also der
staatlichen, der öffentlichen Macht ist.10
Der Staat und die Kirche sollen also so getrennt bleiben, daß
diese zwei von Menschen gebildeten Ausprägungen des Gemeinschaftsgefühls
fast keine Berührungspunkte haben sollten und dürften. Und die
Toleranz folg direkt von dieser Trennung oder von dieser Absenz
der Berührunkspunkten aus. Auf der eine Seite die Kirche, alle
Kirchen, leben vom Staate unabhängig und getrennt, ohne über
irgendeinen Machtmittel zu verfügen und auf der andere Seite
der Staat mischt sich keineswegs in die Angelegenheiten der Glaube
und der Erlösung der Seelen seiner Bürger11.
- 2. Der weitüberwichtiger Argument für die Sache der Toleranz
liegt aber in der Behauptung Locke's, daß jeder Mensch ist selbst
fähig sich um seine eigene Seele zu kümmern und so ist er selbst
verantwortlich für seine Erlösung. Diese ist für John Locke die
Sache der wahren Glaube und der inneren Überzeugung jedes einzelnes
gläubigen Menschen12. Jeder Mensch ist selber
fähig zu beurteilen, ob seine Glaube eine wirklich innige und
wahre Glaube ist. Die menschliche Fähigkeit überhaupt etwas beurteilen
zu können, ist die selbe Fähigkeit, die, notwendigerweise mit
der Wille verknüpft, jeder Mensch als seine Urteilskraft, jederzeit
zu verwenden und zu ausüben verpflichtet ist. Das gilt für die
religiöse Angelegenheiten, wie für alle andere auch. Diese Urteilskraft,
angesehen als Fähigkeit etwas beurteilen zu können, als Fähigkeit
etwas zu entscheiden und als Wille diese Entscheidung überhaupt
zu treffen und nach dieser Entscheidung zu handeln, ist die eigentliche
souveräne Macht, die seinen Einfluß in allen menschlichen Angelegenheiten,
ob diese weltlichen oder kirchlichen Natur seien zur Geltung
bringt. Gegen meinem eigenen Urteil ist jede Anwendung der äußeren
Kraft hilflos, sie kann bestenfalls zunächst als tyrannisch und
in der Folge als zur Revolte provozierend gelten13. Es ist ein Argument, der sehr stark
für die Autonomie der menschlichen Urteilskraft spricht und wie
bekannt - das entgang den Lockschen Komentatoren natürlich auch
nicht - es ist ein Argument der in der Philosophie von John
Locke überhaupt eine sehr große Rolle spielt14.
- 3. Locke definiert in Folge der oben angeführten Argumentation
das Machtbereich der Person, die die öffentliche, das heißt die
staatliche Gewalt ausübt. Dieser magistratus, wie er ihm in seinem
Latein (oder magistrate, wie er ihm in der englischen Version)
nennen pflegt hat eigentlich nur eine einzige Pflicht zu bewahren
und zwar die Toleranz und das öffentliches Wohl zu sichern und
zu wahren. Dafür muß ihm der Unterschied zwischen der Angelegenheiten
oder Tatsachen der Religion, die also den religiösen Charakter
haben und allen anderen, die nicht diesen Charakter haben ganz
klar sein. Die Angelegenheiten des gemeinschaftlichen Lebens
und alle andere Tatsachen, die wir klar als nicht religiös erkennen,
oder die wir ausgehend vom Standpunkt unseres Wissen von dem
Naturrecht moralisch nicht als gut oder schlecht beurteilen können,
müssen wir als indifferent einsehen. Es bleibt dem magistratus
das Recht und auch die Pflicht, mittels seinem Rechtfindens und
Rechtgebens zu entscheiden welche Art der Behandlung der Angelegenheiten
und Tatsachen die religiös indifferent sind, ist gut oder schlecht15. Daraus erfolgen mindestens zwei sehr wichtige -
wichtige auch für die heutige Zeit - Feststellungen: erstens,
alle interne kirchliche Angelegenheiten bleiben außerhalb des
Machtbereichs des Staates, und zwar ganz prinizipiel; zweitens,
da sich das religiöse Leben notwendigerweise in foro externo
abwickelt16, wird es doch zum
Objekt der Reglementierung durch die staatliche Macht (durch
dem magistratus) werden, sogar dieses in foro externo sich abgewickeltes
religiöses Leben das öffentliche Wohl als solches oder die öffentliche
Wohl und Freiheit der anderen Bürgern treffen oder sogar stören
könnte. Umgekehrt aber soll sich nicht der magistratus in das
kirchliche Leben einmischen, wenn dieses nicht die Freiheit und
das öffentliche Wohl stört. Um Locke selbst zu parafrasieren:
was ist im Staate erlaubt, soll nicht die staatliche Macht in
der Kirche verbieten. Das Gesetz soll nicht und darf nicht alles
das in der Kirche zu verbieten, was ist den anderen Subjekten
in dem alltäglichen Leben erlaubt. Der magistratus soll darauf
Rücksicht nehmen, daß man nicht unter dem Vorwand des öffentlichen
Wohls die Freiheit des Kultes irgendeiner Kirche stört, er soll
im Gegenteil sehr behutsam bewahren, daß man nicht der Kirchen
die Verwendung allen dessen, was man im öffentlichen Leben und
ausserhalb des Religionkultes als solches erlaubt, oder sogar
als wünschneswert empfidet, verbietet17.
- 4. Muß Locke über die Fälle entscheiden, in denen sich irgendwie
doch das öffentliche Interesse und das religiöse Interesse schwer
trennen könnten oder in denen sogar zum Konflikten kommt oder
kommen könnte. Diese Fälle werden nach Locke meistens durch solche
Handlungen und durch solche Gewonheiten entscheiden, die wir
meistens für die Zeichen der Moral empfinden und diese sind üblicherweise
dem öffentlichen wie dem religiösen Leben gemeinsam. Es sind
damit solche Handlungen und Gewonheiten gemeint, die wir eigentlich
nicht ganz eindeutig entweder als dem religiösen oder als dem
öffentlichen Leben gehörenden bezeichnen können und welche wir
nicht im Stande sind voneinander klar zu trennen. Diese durch
die Zeit und die Tradition bedingte moralische Handlungen gehören
damit sowohl der internen wie der öffentlichen Sphäre zu, sie
kommen in foro interno wie in foro externo zum Wort18. Ihrer zweideutigen Charakter nach sind unklar und diese
Unklarheit ist für Locke ein weiterer Grund, warum er empfehlt
für diesen notwendigerweise streitigen Bereich die Toleranz zur
Hilfe rufen. Die Lösung der Konflikte, die wir als moralische
Konflikte empfinden und die entflammen immer dort, wo die öffentliche
Macht mit dem individuellen Gewissen ins Konflikt geriet, wird
immer dann erleichtert, wenn der magistratus sich strikt auf
die Sphäre des öffentlichen Lebens beschränkt und die Kirchen,
die meistens das individuelle Gewissen öffentlich vertreten,
die Toleranz ausüben19. Bleibt
hier die Frage des Gewissens: wie kann man sicher sein, daß uns
unseres Gewissen nicht verrät? Diese Frage teilt Locke mit Descartes
und er ist bekanntlich viel mehr skeptischer als dieser in der
Sache des Gewissens. Locke verträt nicht die Thesis über die
Selbstevidenz des denkendes Subjekts: wir sind verpflichtet alles
mittels unserer Urteilskraft zu überprüfen, auch das, was uns
unseres Gewissen sagt. In Gewissensfragen, welche auch die Fragen
der Glaube und der Moral sind, müssen wir sogar noch mehr als
in anderen Fragen, welche unseres Denken analysiert, unsere Urteilskraft
um Hilfe beten, um sicher zu werden, daß wir nicht in der Falle
einer dogmatischen Erläuterung oder Behauptung, die wir fälschlich
als Erkenntnis unseres eigenes Denkens und Gewissens hinnehmen,
obschon sie von anderswo kommen, geraten sind. Das ist eigentlich
der Grund dafür, warum Locke von der Teilnahme an der Toleranz
unter anderen auch die sogennanten Papisten, also Katholiken,
ausschließt, da sie in der Fragen der Glaube und der Moral nicht
ihr eigenes Gewissen folgen, sondern sich der Verordnungen eines
fremden Fürsten, also Papstes, unterordnen20. Auch für die Atheisten darf keine Toleranz gelten und
zwar aus dem Grunde, daß die Atheisten keine feste Begründung
ihres Gewissens - das heißt in dem Respekt gegenüber der Lehre
der Heiligen Schrift - per definitionem - finden könnten21. Man kann also behaupten, daß Locke: 1. als Voraussetzung
für jede wirklich glaubliche Toleranz die wahre innige Überzeugung
des individuellen Gewissens postuliert und 2. eine notwendige
Abgrenzung der Ausübung der Toleranz gegenüber denen Subjekten,
die ihre Überzeugung als politische Waffe verwenden versuchen
und so eine private, für eine öffentliche Sache ausgeben, verlangt.
- 5. Aus allen Argumenten, die wir nur sehr annähernd und kurzgefaßt
angeführt haben, erfolgt für John Locke (seine weitere Ausführungen
über die Kätzer und Schismatiker lasse ich schon beiseite) der
einzig möglichen Schluss in der Frage der Beziehung zwischen
der Religion und seiner Ausübung auf der einen und der öffentlichen
Macht (dem magistrate) auf der anderen Seite: man muß in der
Frage des individuellen Gewissens die Toleranz als oberstes Gesetz
für diese Beziehung anwenden22.
3) Die Frage des Zusammenhanges des Lockeschen Begriffes der
Toleranz mit seiner Philosophie und die Bedeutung des Briefes
John Locke's in der Geschichte der Toleranz. Auch in der Beantwortung
dieser Frage werde ich mich auf das beschrenken, was mir nur
als wirklich bedeutend erscheint.
- 1. Epistola von John Locke erscheint in der Philosophie Locke's,
näher betrachtet, als eine Art Synthese seiner philosophischen
und politischen Ansichten. Wie schon angeführt, sie wurde im
Jahre 1689 gefasst und sie ist offensichtlich als Folge vielen
Ehrfahrungen seines Autors mit der praktischen Politik seiner
Lebenszeit entstanden. Sie erschien letzten Endes nur fünfzehn
Jahren vor seinem Tode; Locke war also ein erfahrener, reifer
Mann, als er sie verfasst hat.
Sie wurde in der Gesammtheit seiner Schriften von anderen Texten
seiner Provenienz über die Toleranz vorgenommen. Von diesen Texten
sind uns mindestens sechs erhalten. Ich stütze mich hier auf
die Arbeit Raymond Polin's um mit seiner Hilfe ganz einfach einen
Übersicht von anderen Lockeschen Versuchen das Thema der Toleranz
formulieren feststellen zu können:
- der erste, uns bekannte Text John Locke's über die Toleranz
entstand im Jahre 1660 unter dem Titel Question: whether the
Civil Magistrate may lawfully impose and determine the use of
indifferent things in reference to religious worship. Eine Vorrede
oder eine Einführung von John Locke wurde zu diesem Text ein
oder zwei Jahre später zugefügt23;
- der zweite Locksche Texte über die Toleranz, diesemal in der
Latein geschrieben, stammt wahrscheinlich aus dem Jahre 1661
oder 1662 und heißt: An magistratus civilis possit res adiaphoras
in divini cultus ritus ascire eosque populo imponere? Affirmatur24;
- drittens: vier Manuskripte eines Essays unter dem Titel: An
Essay concerning Toleration, wahrscheinlich auch noch aus den
60. Jahren des 17. Jhrs., die an verschiedenen Stellen in England
bewahren sind25;
- viertens: eine Notiz über dem verschiedenen Charakter der
zivilen und der religiösen Autorität; sein englischer Titel ist:
On the difference berween civil and ecclesiastical power, indorsed
excommunication. Diese Notiz stammt aus den Jahren 1673 - 167426;
- fünftens: eine andere Notiz über die Toleranz, unter dem einfachen
lateinischen Titel Toleratio, aus dem Jahre 167927;
- sechstens: ein Kommentar ohne Titel der Schrift von Stillingfleet,
Mischief von Separation aus dem Jahre 1681. Locke schrieb sein
Kommentar unter der Zusammenarbeit von James Tyrrell wahrscheinlich
in den Jahren 1681-168328;
- und schliesslich: unsere Epistola de Tolerantia, aus dem Jahre
1689, verfasst in Holland.
Aus diesem kleinen Übersicht, die hauptsächlich der Arbeit Raymond
Polin's entnommen ist, geht klar hervor, daß der Toleranzbrief
von John Locke eigentlich ein Frucht von zwangijähriger Arbeit
ist. Diese aber blieb unausweilich mit äußeren Zuständen des
Lebens von John Locke verbunden, also an erster Stelle mit der
politischen, geschichtlichen Entwicklung der englischen öffentlichen,
aber auch intellektuellen, religiösen und sicherlich auch ökonomischen
Szene, sie ist aber auch sehr stark, sehr innerlich mit der Philosophie
von John Locke überhaupt verbunden. Diese letzte und für uns
vieleicht interessantesste innerliche Verknüpfung und innerliches
Zusammenhang sahen wir ganz klar an der oben angeführten wichtigsten
Punkten seiner Toleranzargumentation. Wir haben uns sicherlich
sehr klar bewußt worden, daß sich im wesentlichen diese Toleranzargumentation
mit der Lockeschen Ansichten von der Priorität des gesunden menschlichen
Verstandes, der auch die Unabhängigkeit des menschlichen Gewissens
ergründet, schliesslich deckt. Locke hat dieses unabhängiges
Gewissen zum wahren Souverän des menschlichen Bewusstseins in
der Form sowie des Erkennens, wie des Urteilens und des Handelns
gehoben, zwar nicht im Sinne einer, wenn auch hypothetisch, ganz
von aussen abgegrenzten, in sich und für sich völlig autonomen
Einheit /Monade, doch aber im Sinne einer Naturgegebene Fähigheit
des menschlichen Geistes, richtig wahrnehmen und auf dem Grunde
dieses als richtig annerkanten Wahrnehmes und Urteilens, die
Wille zu dem richtigen Handeln zu orientieren. Der menschliche
Geist - also die Wahrnehmung, Urteilskraft und Willensfähigkeit
- ist in seiner Tätigkeit souverän, aber nicht ganz autonom.
Diese seine Tätigkeit stüzt sich auf etwas und muß auch etwas
respektieren; die Voraussetzung bleibt hier natürlich die Überzeugung,
daß die Norm für das vernünftiges Verhalten eines jedes menschlichen
Individuums (also für ein solches Verhalten zu dem auf Grund
der richtigen Wahrnemens und Urteilens im moralischen wie in
intellektuellem Sinne des Wortes kommt) immer nur der gesunde,
sich und seiner Grenzen sich bewußte Verstand bleibt. Wo finden
sich aber diese Grenzen?
Es ist für uns wichtig in diesem Zusammenhang die Lockschen Vorausetzungen
für das richtige Wahrnemen, Urteilen und Handeln mindestens ein
wenig erläutern. Wie ist allgemein bekannt, der Problem der notwendigen
Grenzen und Richtlinien für die gesunde Tätikgeit des menschlichen
Verstand ist von René Descartes durch den Konzept der eingeborenen
Ideen, der idae inatae gelöst. Unter der Vorausetzung, daß wir
bereit sind unseres Erkennen nach der guten Methode (siehe sein
Discours de la Méthode und seine Regulae ad directionem ingenii)
zu richten, können wir von diesen ideae inatae ausgehend, die
Welt und uns selbst erkennen. Diese Lösung ist für John Locke
aber unanwendbar und eigentlich unannehbar. Was René Descartes
und vieleicht noch mehr ein platonisierender englischer Zeitgenosse
von John Locke, Ralph Cudworth (1617 - 1688) entweder als eingeborene
Ideen und/oder als eine innere Kraft des Geistes (an Inward and
Active Energy of the Mind it self....its own Innate Vigour from
within29
eingesehen haben und unter diesen eingeborenen Ideen oder eingeborener
inneren Kraft sowie die Motivation wie die Grenzen, Richtlinien
und auch Garantie für das korrekte Verhalten des individuellen
Geistes voraussetzten, wird von Locke abgelehnt. Locke schlägte
eine ganz andere Lösung für diessen Fragenkomplex vor. Wie bekannt,
er vertrat die Meinung, daß alles, was geht in unserem Bewußtsein
vor und was sich in der Form von unseren Vorstellungen niederschlägt,
ist eigentlich eine Art von Synthesen, die sich in unserer Seele
bilden auf Grund von Empfindungen und Abbildungen, die von unseren
sensoriellen Organen vermittelt sind. Viele von diesen Synthesen
sind aber nicht in uns originell enstanden, sie sind vielmehr
als altgewohnte, durch Tradition immer erneut vermittelte Konzepte
einzusehen, die wir, ohne sie gründlich überprüfen, weiter leichtsinnig
oder mindestens unreflektiert wieder benutzen. Es geht dem Locke
darum, diese traditionnele, ausgediente Konzepte kritisch demolieren
und erneuren - das ist eine Aufgabe, die der Aufgabe René Descarte's
ähnelt - der Unterschied besteht aber in der Auffassung der
letzten Stuffe dieser Demolierung um erneuren zu können. Diese
kritische Aufgabe kann uns helfen bis zu den ganz simplen, einfachen
und einzelnen Vorstellungen die uns die sinliche Erfahrung, die
Empfindung und die Abbildung vermitteln, einzudringen. Weiter
geht es nicht, da diese letzte Stuffe gleicht einer passiven
Registrierung von einfachen von unseren Sinnen vermittelten Empfindungen.
Diese letzte oder umgekehrt gesehen, diese erste Stuffe, kann
nicht selber entscheiden, was und ob überhaupt etwas aus diesen
einfachen Empfindungen entstehen werden soll30,
da sie, diese Stuffe, einer tabulae rasae gleicht. Es hängt von
einem weiteren Prozesses unseres Geistes, wie wird von der Verknüpfung
allen diesen einfachen Empfindungen (Ideas) ausgehend, unsere
Vorstellung und unseres Verständnis vom Aussenwelt entstehen.
Dieser Entstehungsprozess, der eigentlich einer Art von Konstruktion
gleicht, die mehr oder weniger identisch mit einem Prozess der
logischen Schliessung, oder Urteilung sehr ähnlich ist, muß sich
notwendigerweise nach gewissen Gesetzen richten; es handelt sich
um Wahrscheinlichkeitsgesetze nach denen wir müssen alles überprüfen,
auch das, was uns als sicher und von Tradition her als sakrosankt
erscheint. In dieser Weise erreichen wir für unsere Denkweise
den nötigen Grad von Abstand von allen Dingen, auch von denen
die der Tradition gehören oder nur ein Erzeugniss der Irrtum
sind. Das ist aber nicht alles: wir werden, als wir dieses Verfahren
benutzen, auch mehr verantwortlich werden, da für Locke vernüftig
zu sein bedeutet gleichwertig verantwortlich zu sein. Das alles
steht und fällt natürlich mit der einfachen, aber sehr wichtigen
Einnahme Locke's, daß der Mensch, von seiner Natur aus, ein vernünftiges
und freies Wesen ist. Und diese Einahme, wie bekannt, ist eigentlich
keine Einahme, sie ist eine feste Überzeugung die sich auf die
christliche Revelation stützt. Es nützte also nichts, anderswo
als in dieser Einnahme, die eine feste Überzeugung ist, und keine
bloße Hypothese, der Grund für die Aktivität des Bewußtseins
und für die Freiheit des Menschen zu suchen.
Ich möchte hier nicht weiter diese, für einige Kritiker der Philosophie
von Locke zu einfach empiristische, zu ätomisierende" und zu
"verdinglichte" Weise der Betrachtung menschlicher intellektuellen
Tätigkeit31 verfolgen.
Sie ist aber sehr wichtig für sein Konzept der Toleranz. Die
Grundlage, sowie die Grenzen für dieses Konzept sind in der Lockeschen
Theorie des Verstehens zu suchen und in dem mit ihm vebundenen
Konzept der Verantwortlichkeit in der Frage des Urteils, da diese
Verantwortlichkeit hat nicht nur die Bedeutung im erkenntnistheoretischen
Sinne, aber auch in dem moralischen. Werden wir zum Schluß kommen,
daß der letzte Grund für die Toleranz im Sinne Locke's die Einnahme
von dem natürlichen Recht des Menschen sei, sich nur nach seinem
Gewissen zu richten und sich eine und nicht eine andere Glaube
zu wählen und wenn die freie Ausübung dieser Glaube nicht die
Andersgläubige und nicht die Gesetze der zivilen Gemeinschaft
stört, dann soll die freie Ausübung dieser Glaube toleriert werden,
dann werden wir wahrscheinlich sehr nahe der Vostellung über
die Toleranz von John Locke kommen. Die Richtlinien und der Maßstab
für die Toleranz sind von Locke eigentlich induktiv (wie seine
Erkenntnislehre) definiert: was stört nicht die Gemeinschaft,
soll erlaubt sein. Was nicht die Gemeinschaft stört, ist alles
das, was die Gemeinschaft als doch noch vernünftigt anerkennt.
Es ist folgenderweise auch klar, daß der Konzept der Toleranz
von John Locke muß notwendigerweise ein Konzept einer vernünftig
eingeschränkten Toleranz sein: er verwährt die Toleranz allen
denen, die sich nicht bereit zeigen, sich dem, was die jeweillige
zivile Gemeinschaft als vernüftig und verantwortlich anerkennt,
sich in vernüftiger und verantwortlicher Weise zu unterordnen
und zu handeln.. Eine absolute Freiheit, also auch eine solche,
die sich als eine absolute Toleranz heraustellt, kam für Locke
in einer konkreten zivilen Gemeinschaft niemals in die Frage,
da schon eine jede Vorstellung von einer konkreten Regierung
muß immer mit der Begründung der Gesellschaftsordnung auf der
Grundlage der Gesetze rechnen, welche die Unterordnung der Bürger
erfordern, wie er es in seinem Essay und auch in seinem Second
Treatise of the Civil Governement behauptet32.
- 2. Die Bedeutung des Toleranzbriefes für die Zeitgenossen von
John Locke und für die nachfolgende Generationen war ganz offensichtlich
sehr groß. Schließlich war der Brief von John Locke nicht nur
ein Frucht seiner akademischen oder ganz privaten Überlegungen,
sondern ein Frucht der großen zeitgenossischen Debatte in der
englischen Gesellschaft des 17. Jhrs und nicht da. Es ist sicherlich
interessant, daß die Frage der Toleranz überall in Europa vor
und nach dem Dreißigjährigen Krieg zu einer äusserst wichtigen
Debatte führte; diese Debatte nur annährend beschreiben zu wollen,
würde uns weit von unserem eigenen Thema führen. Ich möchte hier
nur zwei Nahmen erwähnen und zwar die Name Pierre Bayle's und
Jean-Arouet de Voltaire's. Pierre Bayle, nach Holland emigrierter
französischer Huguenot , vefasste im Jahre 1686 ein Traktat über
die religiöse Toleranz: Commentaire philosophique sur les paroles
de Jésus-Christ "Contrains-les d'entrer" ( Paris, Presses Pocket
1992, aber gedruckt in Rotterdam, 1713 schon unter dem Titel
Commentaire philosophique ou traité de la tolérence universelle
). Auch für Bayle ist die Toleranz eine notwendige Folge und
ein praktischer Ausdruck des Verlangens nach die Selbstbehauptung
eines souveränes Gewissens, daß sich auf eine, als universell
gültig ansehene Moral stützt. Bayle, im Gegenteil zu Locke, anerkennt
aber keine praktische Beschrenkung der Toleranz, wie es Locke,
aus dem Respekt gegenüber der gesetzgegebenden Rechtsautorität
der zivilen Gemeinschaft, also des Staates, einführt. Es scheint
mir, daß Pierre Bayle, dieser Zeitgenosse John Locke's, stellt
der Lockeschen Verfassung der Toleranz eine Herausforderung,
für welche sind auch noch wir und besonders wir, sehr empfindsam.
Fast hundert Jahre nach Bayle und Locke, im Jahre 1763, verfaßte
Voltaire sein bekannter Schrift über die Toleranz, Traité sur
la tolérence: Voltaire reagierte auf einen konkreten Fall der
rechtlich begründeten religiösen Intoleranz und zwar auf die
sogennante Calasaffäre. Er verlangte unter dem Eindruck dieser
Affäre eine religiöse Toleranz und zwar mehr im Sinne Locke's,
dem er auch in diesem Zusammenhang erwähnt. Er verlangt für Frankreich
eine klare Trennung der katholischen Kirche von dem Staate und
eine, eigentlich sehr beschränkte Anerkennung der zivilen Rechte
der nichtkatholischen Bewohner des Königreiches. Er geht philosophisch
nicht über Locke oder Bayle, er wollte protestieren um seine
Abscheu gegenüber der rechtlich begründeten Intoleranz zu manifestieren
und er wollte damit auch etwas Konkretes erreichern. Es dauerte
noch vierundzwangig Jahre, bis 1787; zwei Jahre vor der großen
Revolution wurde durch Ludwig XVI. ein Toleranzedikt ausgegeben,
zwei hundert Jahren nach dem Edit de Nantes der schon eine Toleranz
verkundet hatte und hundert Jahren nach seiner Revokation von
Ludwig XIV. Fast überall in Europa und in Nordamerika war die
religiöse Toleranz in der zweiten Hälfte des 18. Jhrs. akzeptiert
worden, oder auf dem Wege akzeptiert zu werden (1780 in Österreich,
Böhmen usw. z.B.). Doch der Konzept hat sich geändert: nach der
Französischen Revolution hat sich der Interesse von der religiösen
zu der Meinungs- und Bürgerrerchtlichenfreiheiten verschoben.
Das geht schon klar aus Déclaration des droits de l'homme vom
1789. Man garantiert dort das Recht auf die freie Meinung, die
freie Ausübung einer religiösen Überzeugung oder Glaube ist zwar
erwähnt, aber schon wie eine Nebensache; ein ausgesprochenes
Recht des freien Bürgers auf die Religions und Glaubenstoleranz
ist bloß eingeschlossen in die allgemeine Meinungstoleranz. Locke's
tiefsinnige Beobachtung, daß man von der Indifferenz sprechen
kann, wo in der Sache einer Religion keine wahre Überzeugung
ins Spiel mehr kommt, hatte hier seine Bestättigung bekommen.
4) Ich komme damit zu unserer Gegenwart. Was bedeutet heute das
Wort Toleranz für uns?
Ich wende mich zuerst einem Texte Gabriel Marcel's zu, der sein
Autor ursprünglich im Jahre 1939 verfasst hat, also in jener
Zeit, die eigentlich sehr weit entfernt von der praktischen Anwendung
des Rechtes auf die Toleranz stand. Der Text wurde erst später
in einen Sammelband eingenommen33. Gabriel Marcel unterscheidet in sehr netter
Weise zwischen zwei Typen der Toleranz, zwischen die Toleranz,
die eigentlich nur einer Art von der Gleichgültikgeit ist und
jener Toleranz, die aus dem festen Überzeugung eines individuellen
Gewissens, also eines wahres Subjekts herausgeht. Wenn ich mich
fühle fest in meiner Überzeugung, wenn ich im klaren über mein
eigenes Gewissen bin, dann kann ich leichter die Überzeugung
eines anderen Menschen respektieren, das heißt, tolerieren34. Diese Art von Toleranz ist aber
für Marcel nur dann möglich, wenn meine Seele die Seele des Anderen
wirklich liebe, wenn sie sich dem Anderen ganz öffnen kann, wenn
sie endlich nur eine Art von Vermittler zwischen eine, mein eigenes
Selbst transzendierende göttliche Wille und der Seele des Anderen
spielt. Ich toleriere und respektiere in solchem Falle den Anderen,
da ich glaube, daß er sich doch eines Tages durch meine Vermittlung
völlig frei derselben göttlichen Wille öffnen wird, welche schon
meine eigene Glaube und meine eigene Seele transzendiert35. Es ist die Sache einer
absoluten Religion und Gabriel Marcel nimmt sie als einen reinen
Grenzfall, als un cas limite36,
möglich nur in der Rahmen einer religiösen Erfahrung. Außerhalb
dieser Ehrfahrung, in der Sphäre des Politischen, kann sich Gabriel
Marcel die Toleranz im besten Falle nur als eine Art von begrenzten
Kompromissbereitschaft vorstellen: die Toleranz eines Regierungschefs
soll und darf nicht die Befährdung der zivilen Gemeinschaft,
für die er die Verantwortung trägt , hervorrufen37.
Wie wir sehen, entfernt sich Gabriel Marcel nicht sehr weit von
der ursprünglichen Ausgangsposition Locke's: jede wahre innige
Glaube ist notwendigerweise tolerant und sie bleibt eine Privatsache,
was nicht seine Wirkung auf andere Personnen ausschließt; die
Toleranz in der öffentlichen Sphäre gleicht dagegen im besten
Falle mehr einer Kompromissbereitschaft, die eine solche Grenzen
bekommt, welche die Verantwortlichen für das öffentliche Wohl
einer Gemeinschaft für richtig und notwendig finden. Sie ist
also mehr als eine Tolerierung einzusehen, die aber sehr oft
eindeutig einer Indifferenz, welche sich aber weit von dem ursprünglichen
Sinne dieses Konzeptes eines John Locke enfernte, da sie mehr
und mehr einer zynischen Unbekümernheit gegenüber der Meinung
und dem Tun des Anderen gleicht. Gabriel Marcel bleibt trotzdem
noch im Rahmen der Erwägungen von John Locke: der Schwerpunkt
seiner Ausführungen liegt, wie bei John Locke, in der Trennung
der religiösen und der öffentlichen Sphären. Er ist, wie John
Locke der Meinung, daß beide Sphären müssen sehr scharf voneinander
getrennt bleiben, in der Bewertung der Toleranz in der öffentlichen
Sphäre einer zivilen Gemeinschaft nimt Marcel von Locke einen
wichtigen Abstand ein: die Toleranz in der öffentlichen Späre
ist von ihm sehr eindeutig nur als eine Art von sicher nützlichen
und notwendigen und ja, sehr wünschenswerten, aber doch leicht
minderwertigen Kompromissbereitschaft eingesehen im Vergleich
mit der Toleranz im höheren Sinne des Wortes, die in der Sphäre
des wahren Glaubens durch die göttliche Transzendez gesichert
ist.
Wo stehen wir heute, also mehr als ein Halbjahrhundert nach Marcel's
ursprünglicher Redaktion seines Textes über die Toleranz? Marcel's
scharfsinnige Beurteilung der heufigsten Formen der Toleranz
als blosser Indifferenz oder Kompromissbereitschaft um fast jeden
Preiss, ist sicherlich heute in der allgemeinen Meinung und in
der Praxis mehr gültig als je zuvor und wir sind, trotzt aller
Gleichgültikgeit, daran auch doch empfindsamer geworden. Als
ein Beweiß dafür, nur ein zwischen vielen anderen, könnte vieleicht
auch ein Sammelband dienen, der unlängst von Prager Academia
Verlag herausgegeben wurde und der diese Beurteilung auch verträt38. Es ist ein Beispiel der Unzufriedenheit
mit der Erfassung der Toleranz als bloßer Indifferenz, oder als
bloßer Kompromissbereitschaft, was manchmal auch in der Öffentlichkeit
zum Ausdruck kommt. Ein Beispiel könnten die viele Reden und
Ausffürungen des Presidenten Havel zu diesem Thema lieferen.
Zu einer Wende in der Beantwortung der Frage, was heisst die
Toleranz heute, ist doch in den letzten Jahren spürbar, wenn
noch nicht dramatisch gekommen. Die Arbeitstexten, welche für
den XIX. philosophischen Weltkongress im Jahre 1993 von UNESCO
vorbereitet wurden39, sind ein Beweis davon, daß zwar
immer noch und in verständlicher Weise das Problem der Meinungstoleranz
im traditionnellen Sinne des Wortes als das entscheidenste Problem
bleibt ( ein Beispiel für die Notwendigkeit einer Meinungs und
Religionstoleranz ist welweit bekannt worden: Salman Rushdie's
Fall spricht für alle andere), aber daß man in derselben Zeit
mehr und mehr andere Bereiche, als die der Meinungs und Religionstoleranz
in Betracht nimmt. Hans Jonas und sein Prinzip der Verantwortung
kann uns hier als Wegweiser sehr gut dienen. Es wäre von mir
an dieser Stelle überflüssig darüber in Detail sprechen zu wollen,
ich möchte dagegen gerne mit dem Hinweis auf die Tatsache schliessen,
die sehr direkt mit der Lockeschen Ausführungen über die Toleranz
verknüpft ist und das ist die Frage, ob sich die Toleranz in
der öffentlichen Sphäre von universellen Prinzipien leiten lassen
solle oder nicht. Locke hatte sehr scharf die private von der
öffentlichen Sphäre getrennt, für die erste Sphäre bildet der
Urteil unseres individuellen Gewissens, das sich auf die göttliche
Autorität stützt, den höchsten Gebot; die öffentliche Sphäre
kennt dagegen als höchstes Gebot die Erhaltung der zivilen Gemeinschaft,
die mit sich auch eine gewisse Abgrenyung der Ausübung der individuellen
Freiheit, also auch der Toleranz- nicht die Abgrenzung des individuellen
Gewissens - bringen kann. Es scheint mir, auch im Hinblick auf
die Materialien des letzten philosophischen Weltkongresses, daß
sich der heutige Mensch sehr unsicher füllt, was bleibt noch
als private Sphäre - die Sphäre der völligen Freiheit, damit
also auch der Toleranz gegenüber den Ansichten des Anderen -
und was ist schon der Bereich des öffentlichen Interesses und
der öffentlichen Verantwortung, in dem wir wahrscheinlich mehr
und mehr eine gewisse Abgrenzung unserer Unbekümernheit gegenüber
den Anderen und gegenüber unserer Zivilisation und Kultur als
solchen in Kauf nehmen werden müssen. Können wir uns hier auf
irgendeinen universellen Prinzip berufen40? Das Gewissen
John Locke's stützte sich auf Gott und auf klare Erkennung des
Naturrechts; das Gewissen Immanuel Kant's stützte sich auf die
Willensautonomie, die durch den kategorischen Imperativ begrenzt
wurde. Wird sich das Prinzip der Verantwortung als eine Art von
Neuformulierung des Kantschen kategorischen Imperativ durchsetzen,
um ein eigentlich alt/neues universelles Prinzip für die Trennugslinie
zwischen der privaten und öffentlichen Angelegenheiten, zwischen
unbehinderter Gewissensfreiheit und Toleranz auf der einen und
zwischen der blossen Lebenserhaltung auf der anderen Seite bilden?
Diese unsichere Trennungslinie immer erneut definieren zu müssen
wird sehr wahrscheinlich eine nicht sehr leichte Aufgabe unserer
gemeinsamen Zukunft auf diesem Planeten weiter bleiben.
Resumé
Autor se zabývá ve své pøednášce John Locke a tolerance,
pøednesené v kvìtnu 1995 na FernUniversität Hagen, SRN, ètyømi
okruhy problémù: problémem pøekladu Lockových Listù o toleranci
do èeštiny, základními stanovisky jejich autora k otázce náboženské
tolerance, oddìlením sféry soukromé a veøejné, otázkou víry a
pøesvìdèení, nezasahováním státu do otázek svìdomí atd., problémem
místa Lockova Listu o toleranci v jeho tvorbì a vztahem k jeho
filosofii, problémem místa a vlivu Lockova Listu v dìjinách,
problémem souèasného pojetí tolerance na pøíkladu Gabriela Marcela
a souèasných stanoviscích, vyjádøených napø. Hansem Jonasem,
èi v pracovních materiálech pro XIX. svìtový filosofický kongres
1993. Konèí otázkou, zda a jaký universální princip dnes ovládá
naše pøedstavy o toleranci.
L'auteur dans sa conférence John Locke et la tolérance, prononcée
en mai 1995 à l'Université de Hagen en RFA, reflète à la
fois le problème de la traduction des Lettres sur la tolérance
de John Locke en langue tchèque ainsi que le problème de
leur place dans l'ensemble de sa philosophie tout, en discutant
les principaux points du concept de la tolérance de John Locke:
la séparation de la sphère privée de celle publique, la question
de la foi et de la religion, la noningérence de l'Etat dans les
questions de la conscience, etc. L'auteur discute en mæme temps
la place qu'elle occupe la Lettre sur la tolérence dans l'oeuvre
de John Locke et il discute le concept actuel de la tolérence
à partir de Gabriel Marcel, de Hans Jonas et des matériaux
de l'UNESCO, préparés l'occasion du XIXe congrès mondial
de philosophie (1993). Il conclue en posant la question, si un
principe universel peut déterminer nos actuelles idées sur la
tolérence.
Footnotes:
1* [4em]Der hier angeführte
Text wurde in Mai 1995 an der FernUniversität Hagen, BRD, vorgetragen.
Wir geben ihm in der ursprünglichen Fassung aus.
2[4em]Raymond Polin,
Introduction, S. XCVII, in: John Locke, Lettre sur la Tolérance.
Texte latin et traduction francaise. Edition critique et préface
par Raymond Klibansky, traduction et introduction par Raymond
Polin. Montréal, Mario Casalini Ltd. 1964
3[4em]Raymond Klibansky, Préface,
S. XXI, a.a.O.
4[4em]Raymond Klibansky,
Préface, S. VII,, a.a.O.
5[4em]Für die französische Übersetzung und Ausgabe
siehe unter die Anmerkung (1), für die englische Übersetzung
und Ausgabe siehe John Locke, Epistola de Tolerantia. A Letter
on Toleration. Latin Text edited with a Preface by Raymon Klibansky.
English translation with an Introduction and Notes by J.W.Gough.
Oxford, Clarendon Press 1968.
6[4em]The
Works of Jon Locke. A New Edition, corrected in ten volumes,
vol. VI. London, printed for Thomas Tegg, etc. 1823. Reprinted
by Scientia Verlag , Aalen 1963.
7[4em]John
Locke, Epistola de Tolerantia, R. Klibansky Hrsg., englische
Übersetzung von J.W.Gough (s. O. unter der4. Anmerkung, weiter
als Epistola angeführt), Seite 65 - 77. (Es werden im folgenden
immer die Seiten mit dem lateinischen Text angeführt.).
8[4em]Epistola, S.70.
9[4em]Epistola,
S. 58.
10[4em]Epistola, S. 76.
11[4em]Rymond Polin, Introduction,
a.a.O., S. L - LI.
12[4em]Epistola, S. 98.
13[4em]Epistola,
S. 120 an. und S. 138.
14[4em]Siehe z.B. Raymond
Polin, Introduction, S. LII, a. a. O.
15[4em]Epistola,
S. 102 ff.
16[4em]Siehe R.Polin, S. LIV a.a.O.
17[4em]Epistola, S. 110 und
S. 106.
18[4em]Epistola,
S. 122.
19[4em]Epistola, S. 126 und S. 134.
20[4em]Epistola, S. 133
- 135.
21[4em]Epistola,
S. 135.
22[4em]Epistola, S. 141 - 149.
23[4em]Bodleian Library, Mss. Locke,
e. 7, fos 1 - fo 6. Siehe Raymond Polin, Introduction, a.a.O.,
S. XXXIX.
24[4em]Bodleian
Library, Mss. Locke, c. 28, fo 3 - 20. Siehe Raymond Polin,
Introduction, a.a.O., S. XXXIX.
25[4em]Siehe Raymon Polin, Introduction, a.a.O., S.
XL.
26[4em]Ebenda.
27[4em]Bodleian
Library, siehe Raymond Polin, Ebenda.
28[4em]Bodleian Library, Mss. Locke, c.
34. Siehe Raymond Polin, Ebenda.
29[4em]Ralph Cudworth, A Treatise concerning Eternal and
Immutable Morality. London, 1731. Siehe: Charles Tylor, Sources
of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge University
Press 1992 (1989), S. 165 und Encyclopédie philosophique universelle.
Les Oeuvres Philosophiques, I. Paris, PUF 1992, S. 1067 - 1068.
30[4em]John Locke,
An Essay concerning Human Understanding, ed.P.H.Nidditch. Oxford,
Clarendon Press 1975. Siehe" Charles Tylor, a.a.O., S. 165-166.
31[4em]Charles Taylor, a.a.O., S. 166-167.
32[4em]Essay IV, 3.
18;Second Treatise, 4, 22. Siehe Raymond Klibansky, Préface,
a.a.O., S. XX.
33[4em]Gabriel Marcel, Essai de
philosophie concrète. Paris, Editions Gallimard 1967, S. 309
- 326 (Erstmals unter dem Titel, Du refus à l'invocation, Editions
Gallimard, 1940).
34[4em]Gabriel
Marcel, Essai, a.a.O., S. 315.
35[4em]Gabriel
Marcel, Essai, a.a.O., S. 315 - 323.
36[4em]Gabriel Marcel, Essai, a.a.O.,S.323.
37[4em]Gabriel
Marcel, Essai, a.a.O., S. 325.
38[4em]Milan
Machovec, Hrsgg., Problém tolerance v dìjinách a v perspektivì
(Das Problem der Toleranz geschichtlich und perspektivistisch
gesehen), Praha, Academia 1995.
39[4em]La Tolérance aujourd'hui. Analyses philosophiques.
Document de travail pour le XIXe Congræs Mondial de Philosophie
(Moscou; 22.-28.8.1993). Textes réunis et présentés par Roger-Pol
Droit. Paris; UNESCO 1993.
40[4em]Siehe u.a. Marcel
Conche, Le fondement de la morale, Paris, PUF 1993.
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On 17 Jun 2001, 15:58.