SBORNÍK PRACÍ FILOZOFICKÉ FAKULTY BRNÌNSKÉ UNIVERZITY
STUDIA MINORA FACULTATIS PHILOSOPHICAE UNIVERSITATIS BRUNENSIS

B 42, 1995

Petr Horák

John Locke und die Toleranz*1

Als ich diese Vorlesung überhaupt meinen alten Freund, Kollegen Steffen Dietzsch vorgeschlagen habe, handelte ich unter dem Einfluß einer sehr einfachen Idee und zwar daß es vieleicht vom Interesse wäre, Ihnen, meine sehr geehrte Kolleginen und Kollegen über meine Arbeit an einer tschechischen Übersetzung und Ausgabe des bekannten Lockeschen ersten Briefes über die Toleranz etwas zu berichten. Ich dachte - und ich bitte Sie, meine Damen und Herren um Entschuldigung - daß so ein Bericht vieleicht für die erste Anknüpfung der Kontakten zwischen dem Philosophischen Institut der FernUniversität Hagen und dem Philosophischen Institut der Philosophischen Fakultät der Brünner Masaryk's Universität als nicht ganz ungeignetes, im Gegenteil vieleicht sogar als ziemlich interessantes Beispiel einer philosophischen Arbeit gelten könnte. Und ich muß auch ganz offen gestehen, daß ich die Anregung eines Pragers Velagshauses folgend, eine solche Ausgabe im Auftrag genomen habe.
Als ich aber doch ein bischen mehr über meinen heutigen Vortrag überlegen habe, viel mir schwer diese meine heutige Aufgabe so eng zu beschrenken. Wenn ich auch sehr gut die Tatsache einsehe, daß diese, in den Rahmen des normalwissenschaftlichen Betriebs sich gut passende Aufgabe vieleicht nur für mich als ausserordentlich interessant und wichtig erscheint, was natürlich eine Meinung ist, die nicht von allen Zuhörer geteilt sein muß, dringen sich, verknüpft mit der Name Locke's und mit dem Konzept der Toleranz - ganz abgesehen davon, daß wir dieses Jahr von der UNO für das Jahr der Toleranz erklärt wurde - doch noch einige andere Ideen, als nur solche, die mit einer tschechischen Herausgabe des Lockeschen Toleranz Briefes notwendigerweise verknüpft sind.
So habe ich mich doch entschlossen - allen Schwierigkeiten die mir die deutsche Sprache auflegt zum trotz - die ursprünglich engen Grenzen meines heutigen Vortrages leicht erweitern. Ich werde also erstens nur sehr kurz über meine Editionsaufgabe bettrefends Lockschen Briefen über die Toleranz sprechen, dann - also zweitens, ausgehend vom dem Inhalt Lockschen Toleranzbriefes von der Toleranz in historischphilosophischen Hinblick sprechen. Im dritten Teil meines Vortrags werde ich mich zum Gabriel Marcel's Einsichten über die Toleranz wenden, um in dem vierten und letzten Teil meines heutigen Vortrages mir einige Betrachtungen über den heutigen Stand in der Toleranzfrage zu erlauben, und zwar an der Hand zweier Veröffentlichungen aus der letzten Zeit: ich meine hier eine Publikation der UNESCO aus dem Jahre 1993 und einen Sammelband zur Frage der Toleranz, der im diesen Jahr in Prag erschien. Beide diese Teile meines Vortrages werden natürlich die Frage der Toleranz im Hinblick auf die Locksche Behandlung dieses Problems betrachten.
1) Zu dem ersten Punkt also nur ganz kurz: ich wurde durch ein Prager Verlagshaus beauftragt für seine Editionsreihe die im allgemeinen den geistewissenschaftlichen Themen gewidmet ist und durch die schwarze Umschläge der Bände dieser Reihe als sogennante ßchwarze Ausgabenreihe" ziemlich berühmt und beliebt ist, eine Ausgabe der zwei ersten Lockschen Briefen über die Toleranz zu vorbereiten, natürlich mit dem Schwerpunkt betreffend des ersten Briefes, der zweite soll nur als Beweiß, oder als ein Beispiel der zeitgenösischen Polemik dienen: mehr Interesse dem zweiten Brief von Locke lohnt sich eigentlich nicht. Ganz allgemein gesagt, es handelt sich um die Briefe die eigentlich John Locke in seinen reifen Jahren redigiert hatte und die noch von zwei weiteren gefolgt wurden. Der grösste Interesse hatte sich, wie ich es soeben angedeutet, von Anfang an dem ersten von allen diesen Briefen zugewandt. Dieser erste Brief entstand - das alles ist natürlich sehr gut bekannt, so erlaube ich mich hier nur ganz flüchtig darüber zu sprechen - als John Locke in Holland im politischen Exil residierte. Locke schrieb diesen seinen ersten Brief über die Toleranzfrage im Latein, unter dem Titel Epistola de Tolerantia, und zwar in Amsterdam, im Winter des Jahres 1685-86. Diese ursprüngliche lateinische Version wurde in Frühling 1689 veröffentlicht, seine englische Version folgte dann im Herbst desselben Jahres. Nun - und das ist auch sehr gut bekannt, daß der Toleranzbrief John Locke's sehr rasch eine Art von Menschenrechtsdeklaration für das folgendes 18. Jahrhundert geworden ist - ich stütze mich hier auf die Bewertung eines sehr guter Kenners John Locke's, auf die Bewertung von Professoren Raymond Polin2 - was hat sich natürlich in vielen Ausgaben und Übersetzungen nachgeschlagt. Die erste holländische Übersetzung kam schon im Jahre 1689, wenige Monate nach dem lateinischen Original3 zu stande, dann sollte eine französische Übersetzung folgen noch vor der ersten englischen Übersetzung, die übrigens nicht vom Locke selbst verfasst wurde und danach kammen zur Erscheinung selbstverständlich viele andere... Die erste englische Ausgabe war von einem Freunde Locke's, William Popple, sehr rasch und schnell gefertigt. Die Popple's erste englische Ausgabe aus dem Jahre 1689 diente dannach für die ganze Reihe von anderen britischen und amerikanischen Ausgaben bis fast in die letzte Zeit. John Locke selbst gewissermassen in seinem Testament aus dem Jahre 1704 diese erste ennglische Ausgabe autorisierte, als er sich in diesen seinem Testament als Autor der Toleranzbriefen deklarierte, aber doch von dem ersten behauptete, daß dieser sein Brief ins englische ohne seine Mitarbeit übersetzt wurde4. Es gibt heuzutage Ausgaben, mindestens des ersten Briefes, die der lateinischen Originalversion besser entsprechen, als die erste englische, also von William Popple stammende Übersetzung und Ausgabe: ich meine hier zum Beispiel eine französische Ausgabe, die im Jahre 1964 Professor Raymond Polin zustande gebracht hatte und eine englische aus dem Jahre 1968, die von James W. Gough gefertigt wurde. Beide diese Ausgaben wurden von Professoren Raymond Klibansky kritisch vorbereitet und eingeleitet5. Ich verwende für meinen heutigen Vortrag, wie für meine bevorstehende Übersetzung ins tschechische Sprache, diese beide moderne, kritische Ausgabe des ersten Toleranzbriefes John Locke's für den zweiten Brief über die Toleranz von John Locke muß ich mit einer ziemlichen alten Gesammtausgabe der Werke John Locke's begnügen, mit einer Ausgabe die ursprünglich aus dem Jahre 1823 stammt und die in der Form eines Reprints von dem Scientia Verlag Aalen 1963 erneut in dem Buchhandel erschien6.
Zu dieser so zu sagen technischen Seite meines Vorhabens, muß ich noch einiges zufügen: meine Übersetzung der beiden ersten Briefen über die Toleranz von John Locke wird mit aller wahscheinlichkeit die erste tschechische Übersetzung überhaupt sein. Es is eigentlich sehr verblüffend, daß trotz vielen Übersetzungen und Ausgaben anderer Werke von John Locke, keine, mindestens nicht keine, mir bekannte, moderne tschechische Ausgabe des so bekannten und einflussreichen Briefes über die Toleranz bis heute zustande gekommen ist. Man möchte sich gleich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, wie konnten meine tschechische Landsleuten ihre eigene Geschichte des Kampfes um die Religion und Meinungstoleranz ohne diesen Brief gut zu kennen auskommen? Ich lasse aber diese mehr spötisch als ironisch gemeinte Frage beiseite, um an diese Stelle noch etwas anderes hinzufügen: die Idee den ersten und den zweiten Brief über die Toleranz von John Locke ins tschechische zu übersetzen und heraugeben, fasste ich gemeinsam mit meinen Freund Dr. Bøetislav Danìk von dem Prager Vyšehrad Verlagshaus, noch lange Zeit vor die große politische Wende des Jahres 1989. Wir warten auf eine, unserem Vorhaben günstigere Gelegenheit, sie ist gekommen, und ich hoffe im allen Ernst dieses Vorhaben bald erfüllen zu können.
2) Wenden wir uns dem Inhalte des ersten Toleranzbriefes von John Locke. Sein Autor hat ihm, wie schon ewähnt, im Jahre 1689 verfasst. Ich möchte hier nur eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Punkten/Argumenten wagen :
- 1. Locke geht von dem Unterschied des politischen und religiösen aus. Man muß ganz klar und radikal die Trennung der Sphären der politischen Gemeinschaft und der religiösen Gesellschaft, das heißt des Staates an der eine und der Kirche an der anderen Seite unternehmen. Die Funktion des Staates lieg in der Obligation dem Bürger das alles was sich aus dem Naturrecht ergibt, ermöglichen. Das bedeutet, daß die öffentliche Macht, also der Staat, dem Bürger ein Leben im Einklang mit diesem Naturrecht garantieren zu verpflichtet ist, daß zu diesem Zwecke die zivile Gemeinschaft überhaupt einen Staat zu bilden durch den, von Locke fast gleich dem göttlichen Gebote gleichen Gebots des Naturrecht aufgefordert wird, einen Staat also, dessen hauptsächliste und oberste Pflicht ist die Wahrung und Erhaltung des Lebens, der Gesundheit, der Freiheit und des Vermögens der einzelnen Bürger. Zu diesem Zweck bildet sich der Staat aus, als ein äußeres Gebilde einer bürgerlichen Gesellschaft, die seinen Mitgliedern ein gemeinschaftliches Leben in der Sicherheit, im Frieden und in der Prosperität ermöglicht7. Um das zu sichern, verfügt der Staat über gewisse Mittel, die den Frieden und die Freiheit allen Mitgliedern der staatlichen Gemeinschaft garantieren.
Auf der anderen Seite steht die Kirche. Sie ist in den Augen Locke's als eine freie, freiwillige, also als allen den Bürgern, die sich in dieser Kirche eintretten wünschen, zugängliche, daß heißt "öffentliche" Gesellschaft anzusehen. Locke, wie wir sehen, sei mir diese flüchtige Bemerkung erlaubt, lasst sich nicht irren und fasst nicht den später, Dank der sozialwissenschaftlichen Theorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts so berühmt gewordenen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, im Sinne eines Resultats des Zivilisations und modernisierungs Prozesses. In Gegenteil: diese Trennung ist als eine ursprüngliche anzusehen, die staatliche Gemeinschaft ist eine als eine notwendige, nicht nur als eine vieleicht nur zufällige oder nur mögliche Folge der Trennug der Menschheit von dem Naturstand einzusehen. Diese Folge gilt für John Locke als eine ganz selbstverständliche, da sie aus dem Naturrecht erfolgt. Die Errichtung einer kirchlichen Gesellschaft dagegen mag vieleicht als eine gute und nützliche Einrichtung gelten, sie ist aber gewissermassen nicht als eine notwendige Einrichtung einzusehen. Sie ist nur, wie es Locke ausdrückt, eine societas spontanea8. Als solche, sie ist keineswegs notwendig; seine eventuelle Errichtung entspricht darum keineswegs - wie im Falle der Errichtung eines Staates - einer Obligation gegenüber dem Naturrecht. Zu der Entstehung einer solcher kirchlicher Gesellschaft kommt aus sie selber, also in der Folge einer freiwilligeren Zustimmung aller denen, die sich in und zu einer solcher Gesellschaft versammlt haben, um zusammen in klarer Offenheit in dem Geiste der Zustimmung beten zu können und so ihrer Glaube einen Ausdruck zu geben, da sich alle Mitglieder einer solcher kirchlichen Gesellschaft als ernsthaft überzeugt füllen, sich mit diesem Tun die ewige Erlösung sichern. Um das alles zu erreichen, müssen die Gläubigen als erste Vorrausetzung gegenseiteige Toleranz9 praktisch ausüben und die Kirche, die sie in solcher Weise gegründet haben, muß sich ausschliesslich auf das Seelenleben der Gläubigen konzentrien. Aus diesem Postulat erfolgt für John Locke, daß die Kirche keinen Anspruch erheben darf, mit der Angelegenheiten dieser Welt sich beschäftigen, also sich um die bürgerliche Angelegenheiten zu kümmern. Aus allen dem erfolgt für John Locke ein weiteres, ebenso klar formuliertes Postulat: keine kirchliche Gesellschaft hat durchaus keinen Recht die Gewalt, wegen irgendwelchen bürgerlichen Angelegenheiten anwenden oder anwenden zu wollen, da die Ausübung der Gewalt ausschliesslich eine Sache der Regierung, also der staatlichen, der öffentlichen Macht ist.10
Der Staat und die Kirche sollen also so getrennt bleiben, daß diese zwei von Menschen gebildeten Ausprägungen des Gemeinschaftsgefühls fast keine Berührungspunkte haben sollten und dürften. Und die Toleranz folg direkt von dieser Trennung oder von dieser Absenz der Berührunkspunkten aus. Auf der eine Seite die Kirche, alle Kirchen, leben vom Staate unabhängig und getrennt, ohne über irgendeinen Machtmittel zu verfügen und auf der andere Seite der Staat mischt sich keineswegs in die Angelegenheiten der Glaube und der Erlösung der Seelen seiner Bürger11.
- 2. Der weitüberwichtiger Argument für die Sache der Toleranz liegt aber in der Behauptung Locke's, daß jeder Mensch ist selbst fähig sich um seine eigene Seele zu kümmern und so ist er selbst verantwortlich für seine Erlösung. Diese ist für John Locke die Sache der wahren Glaube und der inneren Überzeugung jedes einzelnes gläubigen Menschen12. Jeder Mensch ist selber fähig zu beurteilen, ob seine Glaube eine wirklich innige und wahre Glaube ist. Die menschliche Fähigkeit überhaupt etwas beurteilen zu können, ist die selbe Fähigkeit, die, notwendigerweise mit der Wille verknüpft, jeder Mensch als seine Urteilskraft, jederzeit zu verwenden und zu ausüben verpflichtet ist. Das gilt für die religiöse Angelegenheiten, wie für alle andere auch. Diese Urteilskraft, angesehen als Fähigkeit etwas beurteilen zu können, als Fähigkeit etwas zu entscheiden und als Wille diese Entscheidung überhaupt zu treffen und nach dieser Entscheidung zu handeln, ist die eigentliche souveräne Macht, die seinen Einfluß in allen menschlichen Angelegenheiten, ob diese weltlichen oder kirchlichen Natur seien zur Geltung bringt. Gegen meinem eigenen Urteil ist jede Anwendung der äußeren Kraft hilflos, sie kann bestenfalls zunächst als tyrannisch und in der Folge als zur Revolte provozierend gelten13. Es ist ein Argument, der sehr stark für die Autonomie der menschlichen Urteilskraft spricht und wie bekannt - das entgang den Lockschen Komentatoren natürlich auch nicht - es ist ein Argument der in der Philosophie von John Locke überhaupt eine sehr große Rolle spielt14.
- 3. Locke definiert in Folge der oben angeführten Argumentation das Machtbereich der Person, die die öffentliche, das heißt die staatliche Gewalt ausübt. Dieser magistratus, wie er ihm in seinem Latein (oder magistrate, wie er ihm in der englischen Version) nennen pflegt hat eigentlich nur eine einzige Pflicht zu bewahren und zwar die Toleranz und das öffentliches Wohl zu sichern und zu wahren. Dafür muß ihm der Unterschied zwischen der Angelegenheiten oder Tatsachen der Religion, die also den religiösen Charakter haben und allen anderen, die nicht diesen Charakter haben ganz klar sein. Die Angelegenheiten des gemeinschaftlichen Lebens und alle andere Tatsachen, die wir klar als nicht religiös erkennen, oder die wir ausgehend vom Standpunkt unseres Wissen von dem Naturrecht moralisch nicht als gut oder schlecht beurteilen können, müssen wir als indifferent einsehen. Es bleibt dem magistratus das Recht und auch die Pflicht, mittels seinem Rechtfindens und Rechtgebens zu entscheiden welche Art der Behandlung der Angelegenheiten und Tatsachen die religiös indifferent sind, ist gut oder schlecht15. Daraus erfolgen mindestens zwei sehr wichtige - wichtige auch für die heutige Zeit - Feststellungen: erstens, alle interne kirchliche Angelegenheiten bleiben außerhalb des Machtbereichs des Staates, und zwar ganz prinizipiel; zweitens, da sich das religiöse Leben notwendigerweise in foro externo abwickelt16, wird es doch zum Objekt der Reglementierung durch die staatliche Macht (durch dem magistratus) werden, sogar dieses in foro externo sich abgewickeltes religiöses Leben das öffentliche Wohl als solches oder die öffentliche Wohl und Freiheit der anderen Bürgern treffen oder sogar stören könnte. Umgekehrt aber soll sich nicht der magistratus in das kirchliche Leben einmischen, wenn dieses nicht die Freiheit und das öffentliche Wohl stört. Um Locke selbst zu parafrasieren: was ist im Staate erlaubt, soll nicht die staatliche Macht in der Kirche verbieten. Das Gesetz soll nicht und darf nicht alles das in der Kirche zu verbieten, was ist den anderen Subjekten in dem alltäglichen Leben erlaubt. Der magistratus soll darauf Rücksicht nehmen, daß man nicht unter dem Vorwand des öffentlichen Wohls die Freiheit des Kultes irgendeiner Kirche stört, er soll im Gegenteil sehr behutsam bewahren, daß man nicht der Kirchen die Verwendung allen dessen, was man im öffentlichen Leben und ausserhalb des Religionkultes als solches erlaubt, oder sogar als wünschneswert empfidet, verbietet17.
- 4. Muß Locke über die Fälle entscheiden, in denen sich irgendwie doch das öffentliche Interesse und das religiöse Interesse schwer trennen könnten oder in denen sogar zum Konflikten kommt oder kommen könnte. Diese Fälle werden nach Locke meistens durch solche Handlungen und durch solche Gewonheiten entscheiden, die wir meistens für die Zeichen der Moral empfinden und diese sind üblicherweise dem öffentlichen wie dem religiösen Leben gemeinsam. Es sind damit solche Handlungen und Gewonheiten gemeint, die wir eigentlich nicht ganz eindeutig entweder als dem religiösen oder als dem öffentlichen Leben gehörenden bezeichnen können und welche wir nicht im Stande sind voneinander klar zu trennen. Diese durch die Zeit und die Tradition bedingte moralische Handlungen gehören damit sowohl der internen wie der öffentlichen Sphäre zu, sie kommen in foro interno wie in foro externo zum Wort18. Ihrer zweideutigen Charakter nach sind unklar und diese Unklarheit ist für Locke ein weiterer Grund, warum er empfehlt für diesen notwendigerweise streitigen Bereich die Toleranz zur Hilfe rufen. Die Lösung der Konflikte, die wir als moralische Konflikte empfinden und die entflammen immer dort, wo die öffentliche Macht mit dem individuellen Gewissen ins Konflikt geriet, wird immer dann erleichtert, wenn der magistratus sich strikt auf die Sphäre des öffentlichen Lebens beschränkt und die Kirchen, die meistens das individuelle Gewissen öffentlich vertreten, die Toleranz ausüben19. Bleibt hier die Frage des Gewissens: wie kann man sicher sein, daß uns unseres Gewissen nicht verrät? Diese Frage teilt Locke mit Descartes und er ist bekanntlich viel mehr skeptischer als dieser in der Sache des Gewissens. Locke verträt nicht die Thesis über die Selbstevidenz des denkendes Subjekts: wir sind verpflichtet alles mittels unserer Urteilskraft zu überprüfen, auch das, was uns unseres Gewissen sagt. In Gewissensfragen, welche auch die Fragen der Glaube und der Moral sind, müssen wir sogar noch mehr als in anderen Fragen, welche unseres Denken analysiert, unsere Urteilskraft um Hilfe beten, um sicher zu werden, daß wir nicht in der Falle einer dogmatischen Erläuterung oder Behauptung, die wir fälschlich als Erkenntnis unseres eigenes Denkens und Gewissens hinnehmen, obschon sie von anderswo kommen, geraten sind. Das ist eigentlich der Grund dafür, warum Locke von der Teilnahme an der Toleranz unter anderen auch die sogennanten Papisten, also Katholiken, ausschließt, da sie in der Fragen der Glaube und der Moral nicht ihr eigenes Gewissen folgen, sondern sich der Verordnungen eines fremden Fürsten, also Papstes, unterordnen20. Auch für die Atheisten darf keine Toleranz gelten und zwar aus dem Grunde, daß die Atheisten keine feste Begründung ihres Gewissens - das heißt in dem Respekt gegenüber der Lehre der Heiligen Schrift - per definitionem - finden könnten21. Man kann also behaupten, daß Locke: 1. als Voraussetzung für jede wirklich glaubliche Toleranz die wahre innige Überzeugung des individuellen Gewissens postuliert und 2. eine notwendige Abgrenzung der Ausübung der Toleranz gegenüber denen Subjekten, die ihre Überzeugung als politische Waffe verwenden versuchen und so eine private, für eine öffentliche Sache ausgeben, verlangt.
- 5. Aus allen Argumenten, die wir nur sehr annähernd und kurzgefaßt angeführt haben, erfolgt für John Locke (seine weitere Ausführungen über die Kätzer und Schismatiker lasse ich schon beiseite) der einzig möglichen Schluss in der Frage der Beziehung zwischen der Religion und seiner Ausübung auf der einen und der öffentlichen Macht (dem magistrate) auf der anderen Seite: man muß in der Frage des individuellen Gewissens die Toleranz als oberstes Gesetz für diese Beziehung anwenden22.
3) Die Frage des Zusammenhanges des Lockeschen Begriffes der Toleranz mit seiner Philosophie und die Bedeutung des Briefes John Locke's in der Geschichte der Toleranz. Auch in der Beantwortung dieser Frage werde ich mich auf das beschrenken, was mir nur als wirklich bedeutend erscheint.
- 1. Epistola von John Locke erscheint in der Philosophie Locke's, näher betrachtet, als eine Art Synthese seiner philosophischen und politischen Ansichten. Wie schon angeführt, sie wurde im Jahre 1689 gefasst und sie ist offensichtlich als Folge vielen Ehrfahrungen seines Autors mit der praktischen Politik seiner Lebenszeit entstanden. Sie erschien letzten Endes nur fünfzehn Jahren vor seinem Tode; Locke war also ein erfahrener, reifer Mann, als er sie verfasst hat.
Sie wurde in der Gesammtheit seiner Schriften von anderen Texten seiner Provenienz über die Toleranz vorgenommen. Von diesen Texten sind uns mindestens sechs erhalten. Ich stütze mich hier auf die Arbeit Raymond Polin's um mit seiner Hilfe ganz einfach einen Übersicht von anderen Lockeschen Versuchen das Thema der Toleranz formulieren feststellen zu können:
- der erste, uns bekannte Text John Locke's über die Toleranz entstand im Jahre 1660 unter dem Titel Question: whether the Civil Magistrate may lawfully impose and determine the use of indifferent things in reference to religious worship. Eine Vorrede oder eine Einführung von John Locke wurde zu diesem Text ein oder zwei Jahre später zugefügt23;
- der zweite Locksche Texte über die Toleranz, diesemal in der Latein geschrieben, stammt wahrscheinlich aus dem Jahre 1661 oder 1662 und heißt: An magistratus civilis possit res adiaphoras in divini cultus ritus ascire eosque populo imponere? Affirmatur24;
- drittens: vier Manuskripte eines Essays unter dem Titel: An Essay concerning Toleration, wahrscheinlich auch noch aus den 60. Jahren des 17. Jhrs., die an verschiedenen Stellen in England bewahren sind25;
- viertens: eine Notiz über dem verschiedenen Charakter der zivilen und der religiösen Autorität; sein englischer Titel ist: On the difference berween civil and ecclesiastical power, indorsed excommunication. Diese Notiz stammt aus den Jahren 1673 - 167426;
- fünftens: eine andere Notiz über die Toleranz, unter dem einfachen lateinischen Titel Toleratio, aus dem Jahre 167927;
- sechstens: ein Kommentar ohne Titel der Schrift von Stillingfleet, Mischief von Separation aus dem Jahre 1681. Locke schrieb sein Kommentar unter der Zusammenarbeit von James Tyrrell wahrscheinlich in den Jahren 1681-168328;
- und schliesslich: unsere Epistola de Tolerantia, aus dem Jahre 1689, verfasst in Holland.
Aus diesem kleinen Übersicht, die hauptsächlich der Arbeit Raymond Polin's entnommen ist, geht klar hervor, daß der Toleranzbrief von John Locke eigentlich ein Frucht von zwangijähriger Arbeit ist. Diese aber blieb unausweilich mit äußeren Zuständen des Lebens von John Locke verbunden, also an erster Stelle mit der politischen, geschichtlichen Entwicklung der englischen öffentlichen, aber auch intellektuellen, religiösen und sicherlich auch ökonomischen Szene, sie ist aber auch sehr stark, sehr innerlich mit der Philosophie von John Locke überhaupt verbunden. Diese letzte und für uns vieleicht interessantesste innerliche Verknüpfung und innerliches Zusammenhang sahen wir ganz klar an der oben angeführten wichtigsten Punkten seiner Toleranzargumentation. Wir haben uns sicherlich sehr klar bewußt worden, daß sich im wesentlichen diese Toleranzargumentation mit der Lockeschen Ansichten von der Priorität des gesunden menschlichen Verstandes, der auch die Unabhängigkeit des menschlichen Gewissens ergründet, schliesslich deckt. Locke hat dieses unabhängiges Gewissen zum wahren Souverän des menschlichen Bewusstseins in der Form sowie des Erkennens, wie des Urteilens und des Handelns gehoben, zwar nicht im Sinne einer, wenn auch hypothetisch, ganz von aussen abgegrenzten, in sich und für sich völlig autonomen Einheit /Monade, doch aber im Sinne einer Naturgegebene Fähigheit des menschlichen Geistes, richtig wahrnehmen und auf dem Grunde dieses als richtig annerkanten Wahrnehmes und Urteilens, die Wille zu dem richtigen Handeln zu orientieren. Der menschliche Geist - also die Wahrnehmung, Urteilskraft und Willensfähigkeit - ist in seiner Tätigkeit souverän, aber nicht ganz autonom. Diese seine Tätigkeit stüzt sich auf etwas und muß auch etwas respektieren; die Voraussetzung bleibt hier natürlich die Überzeugung, daß die Norm für das vernünftiges Verhalten eines jedes menschlichen Individuums (also für ein solches Verhalten zu dem auf Grund der richtigen Wahrnemens und Urteilens im moralischen wie in intellektuellem Sinne des Wortes kommt) immer nur der gesunde, sich und seiner Grenzen sich bewußte Verstand bleibt. Wo finden sich aber diese Grenzen?
Es ist für uns wichtig in diesem Zusammenhang die Lockschen Vorausetzungen für das richtige Wahrnemen, Urteilen und Handeln mindestens ein wenig erläutern. Wie ist allgemein bekannt, der Problem der notwendigen Grenzen und Richtlinien für die gesunde Tätikgeit des menschlichen Verstand ist von René Descartes durch den Konzept der eingeborenen Ideen, der idae inatae gelöst. Unter der Vorausetzung, daß wir bereit sind unseres Erkennen nach der guten Methode (siehe sein Discours de la Méthode und seine Regulae ad directionem ingenii) zu richten, können wir von diesen ideae inatae ausgehend, die Welt und uns selbst erkennen. Diese Lösung ist für John Locke aber unanwendbar und eigentlich unannehbar. Was René Descartes und vieleicht noch mehr ein platonisierender englischer Zeitgenosse von John Locke, Ralph Cudworth (1617 - 1688) entweder als eingeborene Ideen und/oder als eine innere Kraft des Geistes (an Inward and Active Energy of the Mind it self....its own Innate Vigour from within29 eingesehen haben und unter diesen eingeborenen Ideen oder eingeborener inneren Kraft sowie die Motivation wie die Grenzen, Richtlinien und auch Garantie für das korrekte Verhalten des individuellen Geistes voraussetzten, wird von Locke abgelehnt. Locke schlägte eine ganz andere Lösung für diessen Fragenkomplex vor. Wie bekannt, er vertrat die Meinung, daß alles, was geht in unserem Bewußtsein vor und was sich in der Form von unseren Vorstellungen niederschlägt, ist eigentlich eine Art von Synthesen, die sich in unserer Seele bilden auf Grund von Empfindungen und Abbildungen, die von unseren sensoriellen Organen vermittelt sind. Viele von diesen Synthesen sind aber nicht in uns originell enstanden, sie sind vielmehr als altgewohnte, durch Tradition immer erneut vermittelte Konzepte einzusehen, die wir, ohne sie gründlich überprüfen, weiter leichtsinnig oder mindestens unreflektiert wieder benutzen. Es geht dem Locke darum, diese traditionnele, ausgediente Konzepte kritisch demolieren und erneuren - das ist eine Aufgabe, die der Aufgabe René Descarte's ähnelt - der Unterschied besteht aber in der Auffassung der letzten Stuffe dieser Demolierung um erneuren zu können. Diese kritische Aufgabe kann uns helfen bis zu den ganz simplen, einfachen und einzelnen Vorstellungen die uns die sinliche Erfahrung, die Empfindung und die Abbildung vermitteln, einzudringen. Weiter geht es nicht, da diese letzte Stuffe gleicht einer passiven Registrierung von einfachen von unseren Sinnen vermittelten Empfindungen. Diese letzte oder umgekehrt gesehen, diese erste Stuffe, kann nicht selber entscheiden, was und ob überhaupt etwas aus diesen einfachen Empfindungen entstehen werden soll30, da sie, diese Stuffe, einer tabulae rasae gleicht. Es hängt von einem weiteren Prozesses unseres Geistes, wie wird von der Verknüpfung allen diesen einfachen Empfindungen (Ideas) ausgehend, unsere Vorstellung und unseres Verständnis vom Aussenwelt entstehen. Dieser Entstehungsprozess, der eigentlich einer Art von Konstruktion gleicht, die mehr oder weniger identisch mit einem Prozess der logischen Schliessung, oder Urteilung sehr ähnlich ist, muß sich notwendigerweise nach gewissen Gesetzen richten; es handelt sich um Wahrscheinlichkeitsgesetze nach denen wir müssen alles überprüfen, auch das, was uns als sicher und von Tradition her als sakrosankt erscheint. In dieser Weise erreichen wir für unsere Denkweise den nötigen Grad von Abstand von allen Dingen, auch von denen die der Tradition gehören oder nur ein Erzeugniss der Irrtum sind. Das ist aber nicht alles: wir werden, als wir dieses Verfahren benutzen, auch mehr verantwortlich werden, da für Locke vernüftig zu sein bedeutet gleichwertig verantwortlich zu sein. Das alles steht und fällt natürlich mit der einfachen, aber sehr wichtigen Einnahme Locke's, daß der Mensch, von seiner Natur aus, ein vernünftiges und freies Wesen ist. Und diese Einahme, wie bekannt, ist eigentlich keine Einahme, sie ist eine feste Überzeugung die sich auf die christliche Revelation stützt. Es nützte also nichts, anderswo als in dieser Einnahme, die eine feste Überzeugung ist, und keine bloße Hypothese, der Grund für die Aktivität des Bewußtseins und für die Freiheit des Menschen zu suchen.
Ich möchte hier nicht weiter diese, für einige Kritiker der Philosophie von Locke zu einfach empiristische, zu ätomisierende" und zu "verdinglichte" Weise der Betrachtung menschlicher intellektuellen Tätigkeit31 verfolgen. Sie ist aber sehr wichtig für sein Konzept der Toleranz. Die Grundlage, sowie die Grenzen für dieses Konzept sind in der Lockeschen Theorie des Verstehens zu suchen und in dem mit ihm vebundenen Konzept der Verantwortlichkeit in der Frage des Urteils, da diese Verantwortlichkeit hat nicht nur die Bedeutung im erkenntnistheoretischen Sinne, aber auch in dem moralischen. Werden wir zum Schluß kommen, daß der letzte Grund für die Toleranz im Sinne Locke's die Einnahme von dem natürlichen Recht des Menschen sei, sich nur nach seinem Gewissen zu richten und sich eine und nicht eine andere Glaube zu wählen und wenn die freie Ausübung dieser Glaube nicht die Andersgläubige und nicht die Gesetze der zivilen Gemeinschaft stört, dann soll die freie Ausübung dieser Glaube toleriert werden, dann werden wir wahrscheinlich sehr nahe der Vostellung über die Toleranz von John Locke kommen. Die Richtlinien und der Maßstab für die Toleranz sind von Locke eigentlich induktiv (wie seine Erkenntnislehre) definiert: was stört nicht die Gemeinschaft, soll erlaubt sein. Was nicht die Gemeinschaft stört, ist alles das, was die Gemeinschaft als doch noch vernünftigt anerkennt. Es ist folgenderweise auch klar, daß der Konzept der Toleranz von John Locke muß notwendigerweise ein Konzept einer vernünftig eingeschränkten Toleranz sein: er verwährt die Toleranz allen denen, die sich nicht bereit zeigen, sich dem, was die jeweillige zivile Gemeinschaft als vernüftig und verantwortlich anerkennt, sich in vernüftiger und verantwortlicher Weise zu unterordnen und zu handeln.. Eine absolute Freiheit, also auch eine solche, die sich als eine absolute Toleranz heraustellt, kam für Locke in einer konkreten zivilen Gemeinschaft niemals in die Frage, da schon eine jede Vorstellung von einer konkreten Regierung muß immer mit der Begründung der Gesellschaftsordnung auf der Grundlage der Gesetze rechnen, welche die Unterordnung der Bürger erfordern, wie er es in seinem Essay und auch in seinem Second Treatise of the Civil Governement behauptet32.
- 2. Die Bedeutung des Toleranzbriefes für die Zeitgenossen von John Locke und für die nachfolgende Generationen war ganz offensichtlich sehr groß. Schließlich war der Brief von John Locke nicht nur ein Frucht seiner akademischen oder ganz privaten Überlegungen, sondern ein Frucht der großen zeitgenossischen Debatte in der englischen Gesellschaft des 17. Jhrs und nicht da. Es ist sicherlich interessant, daß die Frage der Toleranz überall in Europa vor und nach dem Dreißigjährigen Krieg zu einer äusserst wichtigen Debatte führte; diese Debatte nur annährend beschreiben zu wollen, würde uns weit von unserem eigenen Thema führen. Ich möchte hier nur zwei Nahmen erwähnen und zwar die Name Pierre Bayle's und Jean-Arouet de Voltaire's. Pierre Bayle, nach Holland emigrierter französischer Huguenot , vefasste im Jahre 1686 ein Traktat über die religiöse Toleranz: Commentaire philosophique sur les paroles de Jésus-Christ "Contrains-les d'entrer" ( Paris, Presses Pocket 1992, aber gedruckt in Rotterdam, 1713 schon unter dem Titel Commentaire philosophique ou traité de la tolérence universelle ). Auch für Bayle ist die Toleranz eine notwendige Folge und ein praktischer Ausdruck des Verlangens nach die Selbstbehauptung eines souveränes Gewissens, daß sich auf eine, als universell gültig ansehene Moral stützt. Bayle, im Gegenteil zu Locke, anerkennt aber keine praktische Beschrenkung der Toleranz, wie es Locke, aus dem Respekt gegenüber der gesetzgegebenden Rechtsautorität der zivilen Gemeinschaft, also des Staates, einführt. Es scheint mir, daß Pierre Bayle, dieser Zeitgenosse John Locke's, stellt der Lockeschen Verfassung der Toleranz eine Herausforderung, für welche sind auch noch wir und besonders wir, sehr empfindsam.
Fast hundert Jahre nach Bayle und Locke, im Jahre 1763, verfaßte Voltaire sein bekannter Schrift über die Toleranz, Traité sur la tolérence: Voltaire reagierte auf einen konkreten Fall der rechtlich begründeten religiösen Intoleranz und zwar auf die sogennante Calasaffäre. Er verlangte unter dem Eindruck dieser Affäre eine religiöse Toleranz und zwar mehr im Sinne Locke's, dem er auch in diesem Zusammenhang erwähnt. Er verlangt für Frankreich eine klare Trennung der katholischen Kirche von dem Staate und eine, eigentlich sehr beschränkte Anerkennung der zivilen Rechte der nichtkatholischen Bewohner des Königreiches. Er geht philosophisch nicht über Locke oder Bayle, er wollte protestieren um seine Abscheu gegenüber der rechtlich begründeten Intoleranz zu manifestieren und er wollte damit auch etwas Konkretes erreichern. Es dauerte noch vierundzwangig Jahre, bis 1787; zwei Jahre vor der großen Revolution wurde durch Ludwig XVI. ein Toleranzedikt ausgegeben, zwei hundert Jahren nach dem Edit de Nantes der schon eine Toleranz verkundet hatte und hundert Jahren nach seiner Revokation von Ludwig XIV. Fast überall in Europa und in Nordamerika war die religiöse Toleranz in der zweiten Hälfte des 18. Jhrs. akzeptiert worden, oder auf dem Wege akzeptiert zu werden (1780 in Österreich, Böhmen usw. z.B.). Doch der Konzept hat sich geändert: nach der Französischen Revolution hat sich der Interesse von der religiösen zu der Meinungs- und Bürgerrerchtlichenfreiheiten verschoben. Das geht schon klar aus Déclaration des droits de l'homme vom 1789. Man garantiert dort das Recht auf die freie Meinung, die freie Ausübung einer religiösen Überzeugung oder Glaube ist zwar erwähnt, aber schon wie eine Nebensache; ein ausgesprochenes Recht des freien Bürgers auf die Religions und Glaubenstoleranz ist bloß eingeschlossen in die allgemeine Meinungstoleranz. Locke's tiefsinnige Beobachtung, daß man von der Indifferenz sprechen kann, wo in der Sache einer Religion keine wahre Überzeugung ins Spiel mehr kommt, hatte hier seine Bestättigung bekommen.
4) Ich komme damit zu unserer Gegenwart. Was bedeutet heute das Wort Toleranz für uns?
Ich wende mich zuerst einem Texte Gabriel Marcel's zu, der sein Autor ursprünglich im Jahre 1939 verfasst hat, also in jener Zeit, die eigentlich sehr weit entfernt von der praktischen Anwendung des Rechtes auf die Toleranz stand. Der Text wurde erst später in einen Sammelband eingenommen33. Gabriel Marcel unterscheidet in sehr netter Weise zwischen zwei Typen der Toleranz, zwischen die Toleranz, die eigentlich nur einer Art von der Gleichgültikgeit ist und jener Toleranz, die aus dem festen Überzeugung eines individuellen Gewissens, also eines wahres Subjekts herausgeht. Wenn ich mich fühle fest in meiner Überzeugung, wenn ich im klaren über mein eigenes Gewissen bin, dann kann ich leichter die Überzeugung eines anderen Menschen respektieren, das heißt, tolerieren34. Diese Art von Toleranz ist aber für Marcel nur dann möglich, wenn meine Seele die Seele des Anderen wirklich liebe, wenn sie sich dem Anderen ganz öffnen kann, wenn sie endlich nur eine Art von Vermittler zwischen eine, mein eigenes Selbst transzendierende göttliche Wille und der Seele des Anderen spielt. Ich toleriere und respektiere in solchem Falle den Anderen, da ich glaube, daß er sich doch eines Tages durch meine Vermittlung völlig frei derselben göttlichen Wille öffnen wird, welche schon meine eigene Glaube und meine eigene Seele transzendiert35. Es ist die Sache einer absoluten Religion und Gabriel Marcel nimmt sie als einen reinen Grenzfall, als un cas limite36, möglich nur in der Rahmen einer religiösen Erfahrung. Außerhalb dieser Ehrfahrung, in der Sphäre des Politischen, kann sich Gabriel Marcel die Toleranz im besten Falle nur als eine Art von begrenzten Kompromissbereitschaft vorstellen: die Toleranz eines Regierungschefs soll und darf nicht die Befährdung der zivilen Gemeinschaft, für die er die Verantwortung trägt , hervorrufen37.
Wie wir sehen, entfernt sich Gabriel Marcel nicht sehr weit von der ursprünglichen Ausgangsposition Locke's: jede wahre innige Glaube ist notwendigerweise tolerant und sie bleibt eine Privatsache, was nicht seine Wirkung auf andere Personnen ausschließt; die Toleranz in der öffentlichen Sphäre gleicht dagegen im besten Falle mehr einer Kompromissbereitschaft, die eine solche Grenzen bekommt, welche die Verantwortlichen für das öffentliche Wohl einer Gemeinschaft für richtig und notwendig finden. Sie ist also mehr als eine Tolerierung einzusehen, die aber sehr oft eindeutig einer Indifferenz, welche sich aber weit von dem ursprünglichen Sinne dieses Konzeptes eines John Locke enfernte, da sie mehr und mehr einer zynischen Unbekümernheit gegenüber der Meinung und dem Tun des Anderen gleicht. Gabriel Marcel bleibt trotzdem noch im Rahmen der Erwägungen von John Locke: der Schwerpunkt seiner Ausführungen liegt, wie bei John Locke, in der Trennung der religiösen und der öffentlichen Sphären. Er ist, wie John Locke der Meinung, daß beide Sphären müssen sehr scharf voneinander getrennt bleiben, in der Bewertung der Toleranz in der öffentlichen Sphäre einer zivilen Gemeinschaft nimt Marcel von Locke einen wichtigen Abstand ein: die Toleranz in der öffentlichen Späre ist von ihm sehr eindeutig nur als eine Art von sicher nützlichen und notwendigen und ja, sehr wünschenswerten, aber doch leicht minderwertigen Kompromissbereitschaft eingesehen im Vergleich mit der Toleranz im höheren Sinne des Wortes, die in der Sphäre des wahren Glaubens durch die göttliche Transzendez gesichert ist.
Wo stehen wir heute, also mehr als ein Halbjahrhundert nach Marcel's ursprünglicher Redaktion seines Textes über die Toleranz? Marcel's scharfsinnige Beurteilung der heufigsten Formen der Toleranz als blosser Indifferenz oder Kompromissbereitschaft um fast jeden Preiss, ist sicherlich heute in der allgemeinen Meinung und in der Praxis mehr gültig als je zuvor und wir sind, trotzt aller Gleichgültikgeit, daran auch doch empfindsamer geworden. Als ein Beweiß dafür, nur ein zwischen vielen anderen, könnte vieleicht auch ein Sammelband dienen, der unlängst von Prager Academia Verlag herausgegeben wurde und der diese Beurteilung auch verträt38. Es ist ein Beispiel der Unzufriedenheit mit der Erfassung der Toleranz als bloßer Indifferenz, oder als bloßer Kompromissbereitschaft, was manchmal auch in der Öffentlichkeit zum Ausdruck kommt. Ein Beispiel könnten die viele Reden und Ausffürungen des Presidenten Havel zu diesem Thema lieferen. Zu einer Wende in der Beantwortung der Frage, was heisst die Toleranz heute, ist doch in den letzten Jahren spürbar, wenn noch nicht dramatisch gekommen. Die Arbeitstexten, welche für den XIX. philosophischen Weltkongress im Jahre 1993 von UNESCO vorbereitet wurden39, sind ein Beweis davon, daß zwar immer noch und in verständlicher Weise das Problem der Meinungstoleranz im traditionnellen Sinne des Wortes als das entscheidenste Problem bleibt ( ein Beispiel für die Notwendigkeit einer Meinungs und Religionstoleranz ist welweit bekannt worden: Salman Rushdie's Fall spricht für alle andere), aber daß man in derselben Zeit mehr und mehr andere Bereiche, als die der Meinungs und Religionstoleranz in Betracht nimmt. Hans Jonas und sein Prinzip der Verantwortung kann uns hier als Wegweiser sehr gut dienen. Es wäre von mir an dieser Stelle überflüssig darüber in Detail sprechen zu wollen, ich möchte dagegen gerne mit dem Hinweis auf die Tatsache schliessen, die sehr direkt mit der Lockeschen Ausführungen über die Toleranz verknüpft ist und das ist die Frage, ob sich die Toleranz in der öffentlichen Sphäre von universellen Prinzipien leiten lassen solle oder nicht. Locke hatte sehr scharf die private von der öffentlichen Sphäre getrennt, für die erste Sphäre bildet der Urteil unseres individuellen Gewissens, das sich auf die göttliche Autorität stützt, den höchsten Gebot; die öffentliche Sphäre kennt dagegen als höchstes Gebot die Erhaltung der zivilen Gemeinschaft, die mit sich auch eine gewisse Abgrenyung der Ausübung der individuellen Freiheit, also auch der Toleranz- nicht die Abgrenzung des individuellen Gewissens - bringen kann. Es scheint mir, auch im Hinblick auf die Materialien des letzten philosophischen Weltkongresses, daß sich der heutige Mensch sehr unsicher füllt, was bleibt noch als private Sphäre - die Sphäre der völligen Freiheit, damit also auch der Toleranz gegenüber den Ansichten des Anderen - und was ist schon der Bereich des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Verantwortung, in dem wir wahrscheinlich mehr und mehr eine gewisse Abgrenzung unserer Unbekümernheit gegenüber den Anderen und gegenüber unserer Zivilisation und Kultur als solchen in Kauf nehmen werden müssen. Können wir uns hier auf irgendeinen universellen Prinzip berufen40? Das Gewissen John Locke's stützte sich auf Gott und auf klare Erkennung des Naturrechts; das Gewissen Immanuel Kant's stützte sich auf die Willensautonomie, die durch den kategorischen Imperativ begrenzt wurde. Wird sich das Prinzip der Verantwortung als eine Art von Neuformulierung des Kantschen kategorischen Imperativ durchsetzen, um ein eigentlich alt/neues universelles Prinzip für die Trennugslinie zwischen der privaten und öffentlichen Angelegenheiten, zwischen unbehinderter Gewissensfreiheit und Toleranz auf der einen und zwischen der blossen Lebenserhaltung auf der anderen Seite bilden? Diese unsichere Trennungslinie immer erneut definieren zu müssen wird sehr wahrscheinlich eine nicht sehr leichte Aufgabe unserer gemeinsamen Zukunft auf diesem Planeten weiter bleiben.

Resumé

Autor se zabývá ve své pøednášce John Locke a tolerance, pøednesené v kvìtnu 1995 na FernUniversität Hagen, SRN, ètyømi okruhy problémù: problémem pøekladu Lockových Listù o toleranci do èeštiny, základními stanovisky jejich autora k otázce náboženské tolerance, oddìlením sféry soukromé a veøejné, otázkou víry a pøesvìdèení, nezasahováním státu do otázek svìdomí atd., problémem místa Lockova Listu o toleranci v jeho tvorbì a vztahem k jeho filosofii, problémem místa a vlivu Lockova Listu v dìjinách, problémem souèasného pojetí tolerance na pøíkladu Gabriela Marcela a souèasných stanoviscích, vyjádøených napø. Hansem Jonasem, èi v pracovních materiálech pro XIX. svìtový filosofický kongres 1993. Konèí otázkou, zda a jaký universální princip dnes ovládá naše pøedstavy o toleranci.
L'auteur dans sa conférence John Locke et la tolérance, prononcée en mai 1995 à l'Université de Hagen en RFA, reflète à la fois le problème de la traduction des Lettres sur la tolérance de John Locke en langue tchèque ainsi que le problème de leur place dans l'ensemble de sa philosophie tout, en discutant les principaux points du concept de la tolérance de John Locke: la séparation de la sphère privée de celle publique, la question de la foi et de la religion, la noningérence de l'Etat dans les questions de la conscience, etc. L'auteur discute en mæme temps la place qu'elle occupe la Lettre sur la tolérence dans l'oeuvre de John Locke et il discute le concept actuel de la tolérence à partir de Gabriel Marcel, de Hans Jonas et des matériaux de l'UNESCO, préparés l'occasion du XIXe congrès mondial de philosophie (1993). Il conclue en posant la question, si un principe universel peut déterminer nos actuelles idées sur la tolérence.


Footnotes:

1* [4em]Der hier angeführte Text wurde in Mai 1995 an der FernUniversität Hagen, BRD, vorgetragen. Wir geben ihm in der ursprünglichen Fassung aus.

2[4em]Raymond Polin, Introduction, S. XCVII, in: John Locke, Lettre sur la Tolérance. Texte latin et traduction francaise. Edition critique et préface par Raymond Klibansky, traduction et introduction par Raymond Polin. Montréal, Mario Casalini Ltd. 1964

3[4em]Raymond Klibansky, Préface, S. XXI, a.a.O.

4[4em]Raymond Klibansky, Préface, S. VII,, a.a.O.

5[4em]Für die französische Übersetzung und Ausgabe siehe unter die Anmerkung (1), für die englische Übersetzung und Ausgabe siehe John Locke, Epistola de Tolerantia. A Letter on Toleration. Latin Text edited with a Preface by Raymon Klibansky. English translation with an Introduction and Notes by J.W.Gough. Oxford, Clarendon Press 1968.

6[4em]The Works of Jon Locke. A New Edition, corrected in ten volumes, vol. VI. London, printed for Thomas Tegg, etc. 1823. Reprinted by Scientia Verlag , Aalen 1963.

7[4em]John Locke, Epistola de Tolerantia, R. Klibansky Hrsg., englische Übersetzung von J.W.Gough (s. O. unter der4. Anmerkung, weiter als Epistola angeführt), Seite 65 - 77. (Es werden im folgenden immer die Seiten mit dem lateinischen Text angeführt.).

8[4em]Epistola, S.70.

9[4em]Epistola, S. 58.

10[4em]Epistola, S. 76.

11[4em]Rymond Polin, Introduction, a.a.O., S. L - LI.

12[4em]Epistola, S. 98.

13[4em]Epistola, S. 120 an. und S. 138.

14[4em]Siehe z.B. Raymond Polin, Introduction, S. LII, a. a. O.

15[4em]Epistola, S. 102 ff.

16[4em]Siehe R.Polin, S. LIV a.a.O.

17[4em]Epistola, S. 110 und S. 106.

18[4em]Epistola, S. 122.

19[4em]Epistola, S. 126 und S. 134.

20[4em]Epistola, S. 133 - 135.

21[4em]Epistola, S. 135.

22[4em]Epistola, S. 141 - 149.

23[4em]Bodleian Library, Mss. Locke, e. 7, fos 1 - fo 6. Siehe Raymond Polin, Introduction, a.a.O., S. XXXIX.

24[4em]Bodleian Library, Mss. Locke, c. 28, fo 3 - 20. Siehe Raymond Polin, Introduction, a.a.O., S. XXXIX.

25[4em]Siehe Raymon Polin, Introduction, a.a.O., S. XL.

26[4em]Ebenda.

27[4em]Bodleian Library, siehe Raymond Polin, Ebenda.

28[4em]Bodleian Library, Mss. Locke, c. 34. Siehe Raymond Polin, Ebenda.

29[4em]Ralph Cudworth, A Treatise concerning Eternal and Immutable Morality. London, 1731. Siehe: Charles Tylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge University Press 1992 (1989), S. 165 und Encyclopédie philosophique universelle. Les Oeuvres Philosophiques, I. Paris, PUF 1992, S. 1067 - 1068.

30[4em]John Locke, An Essay concerning Human Understanding, ed.P.H.Nidditch. Oxford, Clarendon Press 1975. Siehe" Charles Tylor, a.a.O., S. 165-166.

31[4em]Charles Taylor, a.a.O., S. 166-167.

32[4em]Essay IV, 3. 18;Second Treatise, 4, 22. Siehe Raymond Klibansky, Préface, a.a.O., S. XX.

33[4em]Gabriel Marcel, Essai de philosophie concrète. Paris, Editions Gallimard 1967, S. 309 - 326 (Erstmals unter dem Titel, Du refus à l'invocation, Editions Gallimard, 1940).

34[4em]Gabriel Marcel, Essai, a.a.O., S. 315.

35[4em]Gabriel Marcel, Essai, a.a.O., S. 315 - 323.

36[4em]Gabriel Marcel, Essai, a.a.O.,S.323.

37[4em]Gabriel Marcel, Essai, a.a.O., S. 325.

38[4em]Milan Machovec, Hrsgg., Problém tolerance v dìjinách a v perspektivì (Das Problem der Toleranz geschichtlich und perspektivistisch gesehen), Praha, Academia 1995.

39[4em]La Tolérance aujourd'hui. Analyses philosophiques. Document de travail pour le XIXe Congræs Mondial de Philosophie (Moscou; 22.-28.8.1993). Textes réunis et présentés par Roger-Pol Droit. Paris; UNESCO 1993.

40[4em]Siehe u.a. Marcel Conche, Le fondement de la morale, Paris, PUF 1993.


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